Fehlende Form statt neue Dispositionen

Thomas Jachmann spricht von einer »überkommenen Ritualisierung« des Waldorfunterrichts, die aus einer Kombination von Sprüchen, Strammstehen und Stillhalten bestehe. Diese Ritualisierung verlange Autorität ohne Beziehung, das Ritual werde zum Selbstzweck oder Disziplinierungsmittel. Die heutige Jugend könne da nicht mehr mitgehen, sie brauche Anderes, freiere Begegnung, mehr Spielraum und Freiarbeit. Dies alles wird am Beispiel von Kai exemplifiziert, aber dieser soll wohl eine exemplarische Verhaltenstendenz der modernen Jugendlichen und Kinder vorstellen.

Dagegen halte ich eine Differenzierung und Abgrenzung für erforderlich. Wenn es sich um eine Krankheitssymptomatik handelt, ist eine völlig andere Argumentation nötig, als wenn es um generelle Entwicklungstendenzen oder Dispositionen von Kindern geht. Bei meinen Ausführungen gehe ich im Folgenden davon aus, dass »Kai« kein Krankheitsbild, sondern eine neue Disposition darstellen soll.

Ich bezweifle allerdings, dass solche Verhaltensmuster wirklich für neue Dispositionen von Kindern stehen. Meiner Erfahrung nach sind solche Muster sehr häufig gerade Ausdruck von fehlenden Strukturen, Ritualen und von verlässlichen, konstanten menschlichen Beziehungen. Dass Kinder wie »Kai« Schwierigkeiten haben, sich auf Rituale einzulassen, ist keine Naturgegebenheit, sondern Ausdruck eines Mangels und seelischer Not. Echte, vom Lehrer innerlich ergriffene Rituale, und nicht – wie dargestellt – das Zerrbild einer kumulierenden Folge von Strammstehen etc., bieten gerade solchen Kindern wie »Kai« Halt, Sicherheit, Rhythmus und – so altmodisch es klingt – auch »seelische Nahrung«. Diese Qualitäten sind wichtige Voraussetzungen für das Lernen.

Rituale und gute Gewohnheiten müssen Kinder erwerben, lernen und pflegen, gerade wenn sie damit Probleme haben. Ich halte es für einen Fehler, wenn ein seelischer Mangel vorschnell zur Disposition erklärt wird, um die möglichen Reibungen oder Auseinandersetzungen zu umgehen.

Eine wichtige Erziehungsaufgabe wird aus meiner Sicht vernachlässigt, wenn Strukturen und Rituale zu sehr in Freispiel und Freiarbeit aufgelöst werden. Für den Moment wird der Unterricht natürlicher einfacher. Durch vermehrte Freiarbeit usw. können aber auch empfindliche Defizite gerade im seelischen Bereich entstehen. Ich möchte nicht missverstanden werden, ich wende mich nicht gegen Freispiel und offene Formen an sich, sondern gegen solche Formen als Prinzip, um einer scheinbaren neuen Schülerdisposition entgegenzukommen.

Einen ganz falschen Duktus bekommt der Artikel allerdings dann, wenn Rituale mit

»Unterwerfung« und »Anpassung« identifiziert werden und dies mit einem angeblich »traditionellen Führungsanspruch« des Lehrers verbunden wird.

Diese Vorwürfe halte ich für oberflächlich und polemisch. Das Mitsprechen eines Morgenspruchs zum Beispiel hat mit Unterwerfung oder Anpassung nun wirklich gar nichts zu tun. Von der moralischen, geistigen Dimension eines solchen Spruches, die auch wirksam ist, möchte ich hier gar nicht sprechen.

Diese Dimension wird in dem Artikel noch nicht einmal berührt. Ich kann also nur dringend empfehlen, bevor man sich entschließt, »alte Zöpfe« abzuschneiden, doch bitte genau zu prüfen, ob man wirklich genau weiß, was man tut und was man den Kindern möglicherweise vorenthält.

Zum Autor: Dr. Sebastian Kühn, Lehrer für Mathematik, Physik und freien Religionsunterricht in Siegen seit 1998