Hörräume

Lieber Herr Iru Mun!

Ihre begeisterten Ausführungen über Audiopädie im Oktoberheft kann ich vorbehaltlos unterstreichen. Als jemand, der, seit er sich als Musiker und Pädagoge fühlt, an der Entwicklung solcher Hör-Wege gearbeitet hat, kann ich nur bestätigen, dass die Ausbildung des Hörens, verbunden mit der Möglichkeit, ohne Voraussetzungen musikalisch kreativ zu werden, genau das ist, was unsere Pädagogik und das gesellschaftliche Miteinander heute am dringendsten brauchen.

Trotzdem fehlt mir da noch etwas von zentraler Bedeutung, was das Hören überhaupt erst ins Musikalische führt. Im Folgenden möchte ich versuchen, das kurz zu umreißen.

Das, was ich meine, nenne ich das »Innere Hören«, welches in verschiedenen Formen erscheinen kann. Zunächst erscheint es als reine innere Tätigkeit, die innerlich oder äußerlich gehörte Töne oder Klangereignisse miteinander in Beziehung und Wechselwirkung bringt.

Deutlich wird das z.B. in der »Autobahnübung«: Ich stelle mich z.B. an eine Straßenkreuzung, in eine Fabrikhalle oder ähnliches und setze mich dem bedrängendem Lärm aus. Nun kann ich versuchen, einzelnen Klangerscheinungen innerlich nachzuhören und sie in Wechselbeziehungen zu bringen. Gelingt das – und es hängt nur von meiner Hartnäckigkeit ab, ob es gelingt –, verändert sich mein Erlebnis grundlegend. Plötzlich erlebe ich eine Fülle von Klangfarben, die miteinander in Beziehung stehen, eine Art »Hör-Bild« oder »Komposition«, die alleine ich erzeugt habe, und die alles Bedrängende verloren hat.

Ein ähnliches Erlebnis kann ich haben, wenn ich, nur mit Bleistift und Papier bewaffnet, Töne aus einem beschränkten Tonvorrat so miteinander in Beziehung bringe, dass ein »sprechendes« Gebilde, z.B. eine Melodie entsteht. Gelingt das – und wieder hängt es nur von meiner Hartnäckigkeit ab –, findet sich eine Tonfolge, die ich sogar anderen Menschen zu Gehör bringen kann.

Unbewusst vollziehe ich diese innere Tätigkeit immer auch, wenn ich vertraute Musik höre oder spiele. Ins Musikalische im modernen Sinne gehoben wird dieser Prozess aber erst, wenn ich ihn bewusst kreativ gestalte, mich also als Komponist betätige.

Dazu muss ich aber etwas können und die technischen Voraussetzungen meiner Tätigkeit kennen. Ich komme also um Musiktheorie nicht herum. Wie diese aber nicht klassisch, sondern auf das innere Hören hin entwickelt werden kann, da sind wir wohl ganz am Anfang.

Ein völlig anderer Aspekt des inneren Hörens zeigt sich in dem, was ich Hörräume nennen möchte. Ein Hörraum ist ein konkreter geistiger Ort, den ich konkret und präzise aufsuchen kann, wenn ich mich auf den Weg mache. Dazu ein paar Beispiele:

Wie kann ich mit Holzinstrumenten so arbeiten, dass sich der Holzklang wesensgemäß äußert? Betreibe ich das intensiv genug, werde ich irgendwann bemerken, wie das Holz anfängt zu sprechen, und dass ich mich in ihm spielend bewegen kann. Vergleiche ich ihn mit dem Hörraum z.B. des Steinklangs, kann ich bemerken, dass ich mich in einer völlig anderen »Welt« befinde. In beiden Fällen bemerke ich, dass ich den Hörraum erreicht habe, daran, dass ich dort ankomme, und nicht an irgendwelchen äußeren Gesichtspunkten. Ich bin in der Lage, mich dem Holz- bzw. dem Steinklang gemäß zu verhalten.

An der noch zu wenig verbreiteten und oft zu erwachsen gegriffenen Quintenstimmung für Kindergarten und Schulanfang lässt sich gut sehen, wie wichtig das bewusste Aufsuchen von Hörräumen für die Pädagogik ist. Vertiefe ich mich in das Intervall der Quinte und die daraus erwachsende Quintenstimmung unter Vermeidung aller musikalischer Gewohnheiten, kann ich einen Hörraum erreichen, in dem sich alles musikalische Erleben vollständig verwandelt: Alles wird hoch, leicht, lebhaft, plastisch, atmend beweglich, lebendig usw. Sinn und Handlung des Textes verlieren an Bedeutung, stattdessen werden Töne, Tonfolgen, Worte, Sprachbilder usw. zu guten Freunden, die freudig begrüßt und verabschiedet werden. Alle Taktbetonungen, geraden Metren, Grundtonbezüge, formalen Bezüge, Expression usw. der erwachsenen Musik verschwinden vollständig, bis dahin, dass keine zwei Töne mehr gleich lang sind. Die nur an den Atem gebundene Leichtigkeit der Quintenstimmung zu erreichen, ist heute umso wichtiger, da sie von den Kindern in unserer durch Medien geprägten Welt oft nicht mehr mitgebracht wird. Die Kinder müssen diesen Hörraum oft erst kennenlernen und erobern, bevor sie ihn altersgemäß verlassen können, was sehr förderlich für ihre Resilienz ist. Andere Kulturepochenstimmungen (Tonsysteme) haben ganz andere Hörräume.

Die Musik mancher Komponisten, wie z.B. von Anton Webern, bildet einen ganz eigenen Hörraum. Auch »Star spangled Banner« von Jimi Hendrix (Woodstock) hat deutlich einen eigenen Hörraum.

Woran merkt man aber, dass ein Hörraum wirklich betreten wurde? Das ist eigentlich ganz einfach: Auf der Suche nach einem Hörraum fühle ich mich festgelegt, fremd und auch unfrei, denn es geht darum, bestimmte Qualitäten zu erfahren und von nicht dazugehörigen zu sondern. Bin ich angekommen, verwandelt sich alles. Ich fühle mich heimisch, alles stimmt zusammen, ich habe den Eindruck großer Freiheit, alles machen zu können, und es fühlt sich an, wie die Begegnung mit einer Individualität, nur mit der Besonderheit, dass ich nicht mehr zwischen ihr und mir unterscheiden kann, wir fließen ineinander, ohne dass ich mich selbst verliere.

Wer es nicht erlebt hat, kann sich diese Freiheit kaum vorstellen: Champion Jack Dupree hatte zweifellos den Blues und lebte ganz in seinem Hörraum. Trotzdem war es ihm möglich, wunderbare atonale Soli zu spielen, ohne aus dem Blues herauszufallen. Das ist Freiheit.

Das von Ihnen, lieber Herr Mun, beschriebene Hören sollte m.E. in Richtung auf das »innere Hören« erweitert werden. Dann werden unsere Kinder nicht nur befähigt, konkrete geistige Wahrnehmungen und Begegnungen zu haben – die haben sie sowieso –, sondern auch mit ihnen umzugehen und sich gleichzeitig selbst geistig tätig zu erleben. Dazu aber muss man etwas können und wissen. Und wie dieses Können und Wissen altersgemäß entwickelt werden kann, das ist unsere Aufgabe für die Zukunft.

Mit herzlichen Grüßen

Ihr Knut Johannes Rennert

Musiker, Pädagoge und Instrumentenbauer in Leipzig, www.klangplastik.de

P.S.: Essays mit vertiefenden Gedanken zu diesen Fragen sind beim Autor erhältlich.

Zu Hören heißt, sich öffnen