Kunst kommt von Können

Anna-Sophie Brüning

Als ich vor vielen Jahren als Waldorfschülerin in der 12. Klasse einen externen Musikleistungskurs an einem Gymnasium besuchte, erinnere ich lebhafte Auseinandersetzungen darüber, dass es nicht im Sinne der Waldorfpädagogik sei, der Musik mit Leistung, Analyse und Zensuren zu begegnen. Die Erziehung von Kopf, Herz und Hand verortete die Musik in meiner Erinnerung eindeutig in der Mitte, im Gefühl. Als ob es auf der seligen Insel der Musik etwas gäbe, was Intellekt und Leistung kaputt machen könnten. Aber gibt es einen Unterschied zwischen der Analyse eines Schiller-Gedichtes und einer Beethoven-Sinfonie?

Der Leistungskurs war großartig, noch heute erinnere ich jedes Detail.

Inzwischen habe ich selber Kinder auf der Waldorfschule und lese im Editorial der Erziehungskunst zum Thema Musik wieder von »Pflege und Kultivierung des Seelenraumes«. Es ist viel von Transfer-Wirkungen in diesem Heft die Rede: von gutem Hören, dem Sich-Ausdrücken, Gemeinschaft und Achtsamkeit. Und »es geht nicht zentral um Könnerschaft« steht da. Aber warum denn nicht?

Kinder lieben doch Könnerschaft! Sie lieben Ansprüche. Sie haben eine angeborene Freude an Könnerschaft, Artistik und ja – Perfektion. Kinder wollen doch können! Mein Klavierlehrer Professor Karl-Heinz Kämmerling von der Musikhochschule Hannover fragte mich als Neunjährige in meiner ersten Klavierstunde: »Anna, womit spielst du Klavier?« Was für eine Frage! »Mit den Fingern natürlich!« – »Womit noch?« – »Äh, dem Arm?« – »Womit noch?« – Äh, ... er meint das Pedal! »Mit den Füssen!« – »Womit noch?« ... Eine gefühlte Ewigkeit hat er mich mit dieser Frage gequält. Zum Glück klingelte irgendwann das Telefon und meine Mutter konnte sich heimlich an ihre Stirn tippen. Endlich hatte ich die Antwort: »Mit dem Kopf!« Da wäre das verträumte Waldorfkind sicher nicht drauf gekommen.

Eine Welt ging auf! Diese herrliche Entdeckung veränderte mich und an der Musik lernte ich in den folgenden Jahren logisches Denken, Disziplin, die Fähigkeit zu sachlicher Analyse und strategischem Handeln. Kein Mathe- oder Chemieunterricht hat das bei mir geschafft.

Und da gab es doch tatsächlich einen Studenten in der Klasse dieses Lehrers, der viele Stunden am Tag mit seinen Noten auf dem Ofen saß und nur mit dem Kopf übte. Er dachte die Musik. Magie? Das schönste musikalische Gefühl schwirrt für einen Musiker im luftleeren Raum, wenn kein Kopf da ist, der Strukturen, Harmonien, Aufbau und Kontext versteht.

Die Musikerin, die ich seither bin, findet Kopf, Herz und Hand so gleichwertig durch ihr Berufsleben in Anspruch genommen, dass ihr nie in den Sinn kommen würde, genau in der Pädagogik alle Karten nur auf die Kultivierung des Gefühls zu setzen. Es geht nicht darum, lauter Berufsmusiker hervorzubringen. Aber kämen wir auf die Idee, alle, die keine Mathematiker werden wollen, Mathematik nicht aus den Notwendigkeiten ihrer Disziplin heraus zu unterrichten, und uns mit ungenauen Ergebnissen zu begnügen?

Musik unsachgemäß auf ihren Gefühlsgehalt zu reduzieren, vermittelt ein falsches Bild. Kunst kommt von Können. Die seelischen Räume, von denen in diesem Heft viel die Rede ist, öffnen sich hinter einer Tür von Qualität, Disziplin, Verstehen und Genauigkeit. Nicht davor. Das verstehen auch Kinder. Und diese Tür ist nichts Schlechtes, sondern absolut notwendig und wunderbar. Am Können stoßen Kinder und Jugendliche sich wach und entwickeln einen Sinn für Musik. Es geht immer und sehr zentral um Könnerschaft.