Lechts und Rinks kann man eben doch velwechsern

Martin Meyer-Stoll

Sehr geehrter Herr Köhler,

ich freue mich immer auf Ihre Texte in der »Erziehungskunst«, diesmal finde ich allerdings, dass sie sehr zu wünschen übriglassen (um Sie zu zitieren). Nun ist das angesichts des Themas »Was heißt in unserer marktkonformen Demokratie links und rechts?« sicher kein Wunder, gäbe es hierzu doch ganze Bücher zu schreiben. Da ich die Frage jedoch gerade in Hinblick auf die schwierige Positionierung der Anthroposophie wichtig finde, möchte ich ein paar Punkte anmerken; mir scheint, dass Sie – nicht untypisch für linkes Denken – zugunsten von Theorie und Utopie die Realität außeracht lassen. –

Ihren historischen Ausführungen kann ich im Großen und Ganzen gut folgen. Auch Ihr Definitionsversuch »Links positioniert sich, wer energisch für die Schwachen, Erniedrigten und Benachteiligten Partei ergreift und den Traum von einer gewaltlosen, herrschaftsfreien Gesellschaft nicht aufgibt« klingt erst einmal ganz wunderbar – bis man sich klarmacht, dass linke Parteien mit dem ersten Teil Ihres Satzes seit zwanzig Jahren Kriege rechtfertigen, die wieder (auch) von deutschem Boden ausgehen. Und damit sitzen wir mitten im heutigen Schlamassel. –

In den 1990er Jahren – weiter reicht meine politische Erinnerung nicht zurück – war ich fest davon überzeugt, zu wissen, wer und was links und rechts waren. Links, das waren Gerechtigkeit, Ökologie, Frieden und die Legalisierung von Hanfprodukten, rechts, das waren Glatzen, die im Vollsuff Ausländerheime anzündeten, und die Polizisten, die dabei zusahen. Dann organisierte ein SPD-Bundeskanzler, unterstützt von einem VW-Manager, die sog. »Hartz-IV«-Reform, während parallel ein grüner Außenminister die deutsche Beteiligung am NATO-Krieg gegen Serbien rechtfertigte (natürlich mit dem Auschwitz-Argument), und Stück für Stück begann sich eine babylonische Begriffsverwirrung auszubreiten, die heute jede traditionelle politische Meinungsbildung in diesem Land unmöglich macht. –

Ohne jetzt jeden einzelnen Schritt dieser Geschichte der letzten zwanzig Jahre nachzuzeichnen: Rudolf Steiner wäre für die »Zeit« oder den »Spiegel« heute ein rechter Verschwörungstheoretiker, ein antiamerikanischer brauner Esoteriker, und das zeigt, wie sehr der Begriff »rechts« ein reiner Kampfbegriff für jegliches unliebsame Gedankengut geworden ist. Impfkritik kann heute rechts sein, Zweifel am Multikulturalismus, Kritik an der Politik der USA (von Israel ganz zu schweigen), Kritik an der Vernichtung unserer Landschaften durch Windparks und natürlich – ganz wichtig – jeglicher Verständigungswille mit Russland, von irgendwelchen Thesen zur »Mission einzelner Volksseelen« gar nicht zu reden. Auf der anderen Seite geriert sich eine Regierung unendlich LGBT- und flüchtlingsfreundlich, gender-mainstreaming-orientiert und tendenziell ökologisch, während sie de facto dazu übergegangen ist, in Deutschland (und Europa) eine schöne neue Konzerndiktatur zu installieren, in der es keinerlei effektive Möglichkeiten demokratischer Partizipation mehr gibt. Diese Regierung aber ist natürlich nicht »rechts«, rechts sind die hetzenden Stiefelnazis in Chemnitz, und wehe dem Verfassungsschutzpräsidenten, der öffentlich sagt, dass es die gar nicht gegeben hat … –

Sie schreiben, nach Lage der Dinge könnten wir als Waldorfschulbewegung uns heute keine Neutralität mehr erlauben, und das teile ich, nur: Der Gegner, das sind nicht die, denen die »taz« den rechten Mittelfinger zeigt. Wir befinden uns, wie Warren Buffett ja so wunderbar offen gesagt hat, im Krieg der Reichen gegen die Armen, und die Reichen haben es geschafft, dass alle, die für einen souveränen, handlungsfähigen demokratischen Staat eintreten, heute als »rechts« gebrandmarkt werden können, während ein solcher Staat fürs Erste aber doch das Einzige wäre, was uns vor dem Neofeudalismus des Kapitals schützen könnte. –

Lagerdenken ist nicht mehr gefragt

Ja, früher stand »links« für die Interessen der Armen und »rechts« für die der Reichen; ich glaube, wir müssen uns dringend von dieser Art des Lagerdenkens verabschieden. 100 Jahre lang ist es als Spaltpilz instrumentalisiert worden, und so hören wir heute »AfD«, assoziieren automatisch »hasserfülltes Gedankengut« und sehen nicht die absolut luzide Analyse unserer aktuellen politischen Situation, die es dort eben auch gibt, lesen nicht die »Sezession«-Autoren, die sich klar zum Thema soziale Gerechtigkeit äußern. Wer gesellschaftliche Gruppen vom Dialog ausgrenzt, treibt sie zwangsläufig in die Radikalisierung, und eine Anthroposophie, die sich ängstlich von allem abgrenzt, was die Konzernmedien als rechts beschimpfen, beraubt sich ihrer ureigensten Kraft, die Wirklichkeit jenseits tagesaktueller Polarisierungen zu sehen. –

Im Zusammenhang mit dem völkerrechtswidrigen Vorgehen der Bundesregierung gegenüber Venezuela hat Ken Jebsen eine linke Grundhaltung kürzlich mal so definiert: »Nie wieder Krieg. Punkt.« Und zwar gerade in Deutschland. Wäre das nicht eine Diskussionsgrundlage? »Waldorf gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr«, »Waldorf gegen Wirtschaftssanktionen«, »Waldorf gegen Waffenexporte« – wäre das nicht kraftvoller als das doch recht wohlfeile »Waldorf gegen Rechts« (zumal wir doch wissen, dass jeder vierte Neonazi ein V-Mann ist und hinter Rechtsterrorismus bisher noch immer ein Geheimdienst gesteckt hat)?

Mit freundlichen Grüßen

Martin Meyer-Stoll 

Zum Autor: Martin Meyer-Stoll ist Baumpfleger und Psychotherapeut in Marburg, www.in-kontakt.de