Leserbrief zu Henning Köhler

Von Roswitha Willmann, Februar 2011

Ich stimme Henning Köhler zu: unsere Kinder haben es immer schwerer, sich zu inkarnieren. Ich stimme auch zu: die Voraussetzungen sind nicht immer gut, die Welt lädt nicht immer und überall dazu ein, seinen Platz zu finden. Ich stimme ebenso zu, dass der »Christus Impuls« nötig ist, um diese Kinder zu verstehen. Und dennoch sehe ich Manches etwas anders.

Ich arbeite seit zwanzig Jahren mit Kindern, zwölf Jahre in der Lebensgemeinschaft Bingenheim mit so genannten Seelenpflege bedürftigen Kindern, seit neun Jahren am Bernard Lievegoed Institut in Hamburg mit sogenannten »gesunden« Kindern, die der Pflege der Seele aber ebenso bedürfen.

Mein Eindruck aus diesen Erfahrungen ist, dass die Voraussetzungen, die die Kinder in ihrem physischen Leib heute vorfinden (die sie sich gesucht haben), so sind, dass ihnen der Inkarnationsprozess erschwert wird. Dazu kommen die entsprechenden Umweltverhältnisse, die den Prozess nicht erleichtern.

Das Resultat sind dann »Auffälligkeiten« im Verhalten, im Seelischen, die die von H. Köhler beschriebenen Namen bekommen: »narzisstisch gestörte Tyrannenmonster«, »Dyskalkulie«, »ADS«, »ADHS«, »Asperger« und nicht selten auch »sozial-emotional gestört«.

Diese Namen beschreiben nur die Symptome, nicht die Ursachen. Die Ursachen aber müssen wir zu fassen bekommen, wenn wir die Kinder bei ihrem Inkarnationsprozess unterstützen wollen.

Aus meiner Sicht wird viel zu viel am Seelischen, am Verhalten und auf Grund von Ideologien diagnostiziert, und ich erlebe daran selten eine Hilfe für Eltern und Kind.

Oft  hebt man nur hervor, wie Köhler in seinem Artikel beschreibt, dass die Kinder »… starkes Einfühlungsvermögen haben, … soziale Klugheit, … Erfindungsreichtum, … Tierliebe, … musische Begabungen, … tiefe philosophische und spirituelle Fragen haben, … Gedanken und Gefühle der Mitmenschen lesen …«

Da muss man sehr genau hinsehen, ob das Begabungen sind, die dem Kind dienen, oder solche, die zu Behinderungen werden können, weil sie zu einseitig sind. Um das wirklich beurteilen zu können, braucht es in der Diagnose:

  • Eine Phase in der man urteilsfrei beschreibt, was das Kind uns im Physischen, in der Anamnese und im Verhalten zeigt.
  • Eine Phase, in der man sich empathisch in die physische Gestalt des Kindes, die Anamnese und das Verhalten einfühlt.
  • Eine Phase, in der man nach erarbeiteten Kriterien sorgfältig am Physischen, an der Anamnese und am Verhalten diagnostiziert.
  • Dann erst findet eine Urteilsbildung statt, was beim Kind vorliegt.
  • Danach werden differenzierte und gezielte Schritte zur Unterstützung entwickelt.

Ein Beispiel: Eltern kommen zu mir, weil ihr Kind in der Schule und zu Hause immer wieder Wutanfälle hat. Die Wutanfälle sind ein seelisches Symptom, das verschiedene Ursachen haben kann, wie:

  • eine gestaute oder zu durchlässige Konstitution
  • Schwefelreichtum oder Eisenreichtum
  • eine Lebenssinnstörung
  • ein cholerisches Temperament

All diese konstitutionellen Einseitigkeiten können zur Folge haben, dass ein Kind Wutanfälle bekommt. Um das Kind in der richtigen Weise zu unterstützen, muss ich genau wissen, woher sie kommen. Das kann ich nur, wenn ich am Physischen und in der Anamnese diagnostiziere, denn im Verhalten sind ja »alle gleich«.

So kann ich finden, was das Kind braucht, denn die oben beschriebenen Einseitigkeiten brauchen jeweils etwas ganz anderes. Das Inkarnationsproblem bleibt individuell verschieden und man kann es auf keinen Fall mit einem Patentrezept lösen.

Stets war es für Eltern und andere Pädagogen, die das Kind begleiten, eine große Hilfe, auf diesem Weg zu verstehen, dass das Kind mit seinen konstitutionellen Einseitigkeiten zu kämpfen hat – und deshalb im Verhalten anders, besonders ist! Die Eltern erleben immer wieder eine »Entschuldung« dadurch, dass sie nicht alles falsch gemacht haben, sondern manche Dinge einfach so sind.

Und natürlich ist dem Kind immer schon geholfen, wenn es endlich einmal verstanden wird. Nicht zuletzt braucht es Diagnosen, die einen Namen haben, damit man sich unter Menschen versteht, nicht leere Worthülsen, sondern eine mit Leben gefüllte Diagnose. 

Solange wir noch nicht hellsichtig sind und nicht wirklich beurteilen können, woran es liegt, dass ein Kind »Ja« und zugleich »Nein« sagt, finde ich zudem, dass wir ihm alles anbieten sollten, was nur möglich ist, damit es »Ja« sagen kann zu seinem Leib und zu dieser Welt. Und ich mache immer wieder die Erfahrung, die Kinder nehmen, was sie brauchen und was sie nicht brauchen, das lehnen sie ab. 

Mit dieser Vorgehensweise haben wir im Bernard Lievegoed Institut noch keinem besonderen Kind seine Genialität ausgetrieben. Mit mehr Bodenhaftung sind die Kinder in der Lage, ihre Genialität auszuleben und in Taten umzusetzen.

Roswitha Willmann

Link: www.bli-hamburg.de

Der Beitrag von Henning Köhler in Heft 12 / 2010

Kommentare

Henning Köhler, 21.02.11 14:02

Ich zweifle nicht daran, dass im Bernard Lievegoed-Institut kompetente Arbeit geleistet wird, und werde mich hüten, zu behaupten, man treibe den Kindern dort die Genialität aus.

Irgendwie kommt es mir so vor, als antworte Frau Willmann auf einen imaginären Text, den ich ihrer Meinung nach geschrieben haben könnte.
Ich sprach in dem Artikel speziell von Angst-, Traurigkeits- oder Unzufriedenheitszuständen und fügte hinzu, dass sie oft mit erstaunlichen Begabungen einher gehen. Willmann zufolge spielt bei der Entstehung dieser ambivalenten Seelenverfassungen konstitutionelle oder funktionelle Einseitigkeiten eine größere Rolle als alles Geistig-Seelische. Wer das anders sieht, argumentiert (bzw. diagnostiziert) angeblich »auf Grund von Ideologien«.

Darüber könnte und müsste man ausführlich diskutieren, beginnend mit einer gründlichen Klärung der Begriffe Inkarnation, Seele, Physis, Leib etc. Allein die Formulierung »im Leib vorgefundene Voraussetzungen« (Willmann) wirft viele Fragen auf. (Sollte es nicht besser heißen: Komplikationen beim Aufbau des Leib-Seele-Gefüges durch die Individualität? Anfangs sind da nur ein paar Eiweißmoleküle. Sie bergen die Erbinformation. Letztere aber ist, anthroposophisch gesehen, nichts Physisches.) Auch das gängige Ursache-Wirkung-Schema im Zusammenspiel von Leib und Seele hält einer tieferen menschenkundlichen Betrachtung nicht stand. Was im Einzelnen von was kommt, ist äußerst schwer zu beantworten. »Am wenigsten berücksichtigt diejenige Pädagogik das Körperliche, die aus abstrakten Regeln gerade auf das Körperliche losgehen will, weil diese Pädagogik nicht kennt, wie jede Seelen- und Geistesregung eben gerade im kindlichen Lebensalter hineinwirkt in das Körperliche.« (Steiner)

Vielleicht bietet sich ja mal eine Gelegenheit zum Austausch. Das Totschlagargument Ideologie, auch noch gemünzt auf Hinweise Steiners, die ich ja nur kommentiere, müsste dann allerdings außen vor bleiben.

Hier nur einige kurze Bemerkungen zu dem strittigen Punkt: Steiner betont, Inkarnationserschwernisse rührten oft (aber natürlich nicht immer) davon her, dass die Kinderseelen »eine gewisse Angst und Furcht haben, in das Leben einzutreten.« Nehmen wir einmal an, das sei keine Ideologie, sondern Ergebnis einer geistigen Schau, und fragen uns, wie sich dieses ›vorgeburtliche Erschrecken‹ niederschlagen würde. Nun, es würde sich seelisch-leiblich niederschlagen, also in der Gemütslage, im Verhalten und im Organischen bzw. in der Art, wie sich das Ich leiblich aktualisiert. Und zwar bei jedem betroffenen Kind anders. (Es gibt keine Gleichartigkeiten, nur Ähnlichkeiten.) Abgesehen davon, wirken natürlich in den Entwicklungsjahren stets auch Umwelteinflüsse und erblich bedingte Faktoren mit. Aber das ist ja allseits bekannt. Ich wollte auf nicht allseits Bekanntes hinweisen.

Der alte Streit um die Henne und das Ei – sind körperliche Befunde die Ursache seelischer Auffälligkeiten oder umgekehrt? – führt offensichtlich nicht weiter. Die Kinder, von denen ich in dem beanstandeten Artikel sprach, sind nicht im klassischen Sinne behindert, auch nicht krank, sondern tief verunsichert und insofern doch »Seelenpflege-bedürftig«. Wenn diese Bezeichnung berechtigt ist, darf das Seelische selbstredend nicht vernachlässigt werden, weder diagnostisch (im Bemühen um ein tieferes Verständnis der Probleme), noch pädagogisch-therapeutisch. Willmanns Ausführungen erwecken den Verdacht, sie fröne einem fruchtlosen Dualismus. (Aber da kann ich mich natürlich täuschen.) In allem, was körperlich, konstitutionell, organisch vorliegt, spricht sich Seelisches aus, genauer: Diese Gegebenheiten sind Chiffren für Grundgesten des individuellen Lebensschicksals im Weltzusammenhang. Andererseits: Was sich in Seelenuntergründen abspielt, durchwebt die Leiblichkeit, und wenn wir Leiblichkeit sagen, ist der physische Leib nur ein kleiner Teil davon.

Selbstverständlich hat alles, was zu einem positiven Körpergefühl beiträgt, der vegetativen Regulation dient und die basale Sinnesreifung unterstützt, harmonisierende, kräftigende Auswirkungen auf das Seelenleben bis hinauf zum Denken. Seit 30 Jahren buchstabiere ich das nun schon rauf und runter in meinen Büchern, Vorträgen und Fortbildungen. Andersherum hat aber auch alles, was unmittelbar zur seelischen Erwärmung und Auflichtung beiträgt (und da tut man das Beste oftmals gerade durch äußeres Nichtstun bzw. Nichtswollen: Aufmerksamkeit, Gegenwärtigkeit, Andacht), gesundende Auswirkungen auf den Organismus des Kindes.

Des Pudels Kern ist, dass die existenziell verunsicherten Kinder Hilfe brauchen, um richtig zu atmen. Körperlich und seelisch. Dafür gibt es – Konstitution hin, Konstitution her – keine wirksamere Unterstützung als das, was sich zwischen Mensch und Mensch abspielt in einer wahrhaft vertrauensvollen, achtsamen Beziehung. Das pädagogische Gesetz Steiners, wonach jedes Wesensglied des Erwachsenen auf das nächst ›tiefere‹ des Kindes wirkt, bietet hier einen Schlüssel. Ob wir Kunsttherapie, Spieltherapie, Märchentherapie, Übungen zur Sinnespflege, Bogenschießen, Theaterarbeit, Zirkus, rhythmische Einreibungen, Bewegungsspiele, problemlösungsorientierte Gespräche oder was auch immer anbieten – alles ist für die Katz, wenn sich das Kind nicht vollständig angenommen fühlt. Und wenn mir nicht klar ist, dass letztlich ich selbst der wichtigste Heilfaktor bin.

Dies wird heute noch sträflich unterschätzt, auch in unseren Kreisen. Aber ich denke, hier würde Roswitha Willmann nicht grundsätzlich widersprechen.

Man kann über alles reden. Meinungsunterschiede in dem einen oder anderen Punkt bringen doch Leben in die anthroposophische Bude! Manchmal ist man nur irritiert von der Sprache des Anderen und von seiner Art, die Dinge anzuschauen, während im Grunde genommen die Gemeinsamkeiten überwiegen. Jedenfalls bin ich mit vielem, was Willmann ausführt, völlig einverstanden.

Was ich allerdings nicht in Ordnung finde, ist, dass sie den Eindruck erweckt, wir im Janusz-Korczak-Institut seien unfähig oder unwillens, »individuelle«, »mit Leben gefüllte« Diagnosen zu stellen, arbeiteten stattdessen mit »Patentrezepten« und versäumten es, einem hilfebedürftigen Kind »anzubieten, was nur möglich ist, damit es Ja sagen kann zu seinem Leib und zu dieser Welt.«

Was tun wir wohl seit 25 Jahren in unserem Institut? Was tun wohl die vielen Menschen, die bei uns gelernt haben? Diagnostisch herumschludern, Patentrezepte verteilen, den Kindern die Hilfe verweigern? Strikt einzelfallbezogene diagnostische Akribie ist geradezu ein Markenzeichen des JKI. (Allerdings nehmen wir den Begriff intuitive Diagnostik sehr ernst. Es gibt reale Möglichkeiten, ein erkennendes Fühlen auszubilden, welches jeder deskriptiven Diagnostik überlegen ist. Was aber nicht heißen soll, auf letztere könne heute schon völlig verzichtet werden.)

Eine selbstkritische Fußnote: Willmanns Brief bestätigt, was ich schon ahnte: Es wäre besser gewesen, zu diesem überaus schwierigen, komplexen Thema keinen notgedrungen so kurzen und auch noch in möglichst
allgemeinverständlichen Worten gehaltenen Artikel zu schreiben. Da lauern einfach zu viele Missverständnisse.
»Die Kinder nehmen, was sie brauchen, und was sie nicht brauchen, das lehnen sie ab«, schreibt Willmann zuletzt. Exakt! Wenn das ernst gemeint ist, können wir so weit nicht auseinander liegen.

Mit freundlichem Gruß
Henning Köhler

Roawitha Willmann, Hamburg, 13.04.11 20:04

Leider lese ich diese Stellungnahme von Herrn Köhler heute erst,
freue mich schon darauf Stellung zu nehmen, denn so kann die Diskussion wirklich interessant werden!!!
Bis bald
Roswitha Willmann

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