Leserbrief zu Henning Köhler

Roswitha Willmann

Ich arbeite seit zwanzig Jahren mit Kindern, zwölf Jahre in der Lebensgemeinschaft Bingenheim mit so genannten Seelenpflege bedürftigen Kindern, seit neun Jahren am Bernard Lievegoed Institut in Hamburg mit sogenannten »gesunden« Kindern, die der Pflege der Seele aber ebenso bedürfen.

Mein Eindruck aus diesen Erfahrungen ist, dass die Voraussetzungen, die die Kinder in ihrem physischen Leib heute vorfinden (die sie sich gesucht haben), so sind, dass ihnen der Inkarnationsprozess erschwert wird. Dazu kommen die entsprechenden Umweltverhältnisse, die den Prozess nicht erleichtern.

Das Resultat sind dann »Auffälligkeiten« im Verhalten, im Seelischen, die die von H. Köhler beschriebenen Namen bekommen: »narzisstisch gestörte Tyrannenmonster«, »Dyskalkulie«, »ADS«, »ADHS«, »Asperger« und nicht selten auch »sozial-emotional gestört«.

Diese Namen beschreiben nur die Symptome, nicht die Ursachen. Die Ursachen aber müssen wir zu fassen bekommen, wenn wir die Kinder bei ihrem Inkarnationsprozess unterstützen wollen.

Aus meiner Sicht wird viel zu viel am Seelischen, am Verhalten und auf Grund von Ideologien diagnostiziert, und ich erlebe daran selten eine Hilfe für Eltern und Kind.

Oft  hebt man nur hervor, wie Köhler in seinem Artikel beschreibt, dass die Kinder »… starkes Einfühlungsvermögen haben, … soziale Klugheit, … Erfindungsreichtum, … Tierliebe, … musische Begabungen, … tiefe philosophische und spirituelle Fragen haben, … Gedanken und Gefühle der Mitmenschen lesen …«

Da muss man sehr genau hinsehen, ob das Begabungen sind, die dem Kind dienen, oder solche, die zu Behinderungen werden können, weil sie zu einseitig sind. Um das wirklich beurteilen zu können, braucht es in der Diagnose:

  • Eine Phase in der man urteilsfrei beschreibt, was das Kind uns im Physischen, in der Anamnese und im Verhalten zeigt.
  • Eine Phase, in der man sich empathisch in die physische Gestalt des Kindes, die Anamnese und das Verhalten einfühlt.
  • Eine Phase, in der man nach erarbeiteten Kriterien sorgfältig am Physischen, an der Anamnese und am Verhalten diagnostiziert.
  • Dann erst findet eine Urteilsbildung statt, was beim Kind vorliegt.
  • Danach werden differenzierte und gezielte Schritte zur Unterstützung entwickelt.

Ein Beispiel: Eltern kommen zu mir, weil ihr Kind in der Schule und zu Hause immer wieder Wutanfälle hat. Die Wutanfälle sind ein seelisches Symptom, das verschiedene Ursachen haben kann, wie:

  • eine gestaute oder zu durchlässige Konstitution
  • Schwefelreichtum oder Eisenreichtum
  • eine Lebenssinnstörung
  • ein cholerisches Temperament

All diese konstitutionellen Einseitigkeiten können zur Folge haben, dass ein Kind Wutanfälle bekommt. Um das Kind in der richtigen Weise zu unterstützen, muss ich genau wissen, woher sie kommen. Das kann ich nur, wenn ich am Physischen und in der Anamnese diagnostiziere, denn im Verhalten sind ja »alle gleich«.

So kann ich finden, was das Kind braucht, denn die oben beschriebenen Einseitigkeiten brauchen jeweils etwas ganz anderes. Das Inkarnationsproblem bleibt individuell verschieden und man kann es auf keinen Fall mit einem Patentrezept lösen.

Stets war es für Eltern und andere Pädagogen, die das Kind begleiten, eine große Hilfe, auf diesem Weg zu verstehen, dass das Kind mit seinen konstitutionellen Einseitigkeiten zu kämpfen hat – und deshalb im Verhalten anders, besonders ist! Die Eltern erleben immer wieder eine »Entschuldung« dadurch, dass sie nicht alles falsch gemacht haben, sondern manche Dinge einfach so sind.

Und natürlich ist dem Kind immer schon geholfen, wenn es endlich einmal verstanden wird. Nicht zuletzt braucht es Diagnosen, die einen Namen haben, damit man sich unter Menschen versteht, nicht leere Worthülsen, sondern eine mit Leben gefüllte Diagnose. 

Solange wir noch nicht hellsichtig sind und nicht wirklich beurteilen können, woran es liegt, dass ein Kind »Ja« und zugleich »Nein« sagt, finde ich zudem, dass wir ihm alles anbieten sollten, was nur möglich ist, damit es »Ja« sagen kann zu seinem Leib und zu dieser Welt. Und ich mache immer wieder die Erfahrung, die Kinder nehmen, was sie brauchen und was sie nicht brauchen, das lehnen sie ab. 

Mit dieser Vorgehensweise haben wir im Bernard Lievegoed Institut noch keinem besonderen Kind seine Genialität ausgetrieben. Mit mehr Bodenhaftung sind die Kinder in der Lage, ihre Genialität auszuleben und in Taten umzusetzen.

Roswitha Willmann

Link: www.bli-hamburg.de

Der Beitrag von Henning Köhler in Heft 12 / 2010