Leserbrief zu: »Wie inklusiv sind Waldorfschulen?«, Mai 2012

Sandra Klatt-Olbrich

Höchste Zeit, in die Debatte einzusteigen

Die Frage, die der Autor bereits in der Überschrift stellt, ist durchaus berechtigt. Sie beschäftigte auch Eltern und Lehrer unserer Schule, die dieses Thema vor einigen Monaten zum Inhalt einer Gemeinsamen Konferenz gewählt hatten: Was heißt das eigentlich – anders sein? Kann unsere Gemeinschaft das tragen? Wie müsste Schule aussehen, um allen Kindern – mit und ohne Förderbedarf – gerecht zu werden? Bereits während der Konferenz wurde deutlich: Es gibt in der Tat mehr Fragen als Antworten, Vorbehalte und Ängste. Bei bestehender Klassengröße, derzeitigem Personalschlüssel und baulichen Barrieren sei eine Integration von Kindern mit (mehr) Förderbedarf oder mit Behinderung kaum möglich. Für einen inklusiven Ansatz müsse man Schule neu denken – das ganz große Rad drehen – dafür aber fehlt es wohl an Resourcen.

Auf Bundes- wie auf Landesebene ist die Inklusion längst beschlossene Sache. Wo aber bleibt – für den Anfang – eine offene, einrichtungsübergreifende Diskussion in der Hamburger Waldorfwelt? Ob und wie ein Austausch zwischen den Steinerschulen stattfindet, davon ist wenig zu hören oder zu lesen. Offensichtlich ist die räumliche Trennung: Waldorfschule hier, heilpädagogische Waldorfsschule da. Einige Eltern schätzen, dass ihr Kind in einem geschützten Raum mit kleinen Klassen lernen kann. Andere Eltern jedoch, die ihr Kind auf eine herkömmliche Waldorfschule schicken möchten und eine Förderschule für ungeeignet erachten, haben keine Wahl – mit vielschichtigen Konsequenzen für den Lebensweg ihres Kindes. Geschwisterkinder werden getrennt, Biografien geschrieben, noch bevor die Ausbildung begonnen hat. Selbstbestimmung sieht anders aus. 

Kluft zwischen politischer Korrektheit und tatsächlichem Denken

Nur wenige Schulen in freier Trägerschaft scheinen sich verpflichtet zu fühlen, die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen. Dabei hat sich der Bund der Freien Waldorfschulen ausdrücklich dafür ausgesprochen. Bereits beim Thema Barrierefreiheit -– eine wesentliche Vorraussetzung für mehr Integration – tut man sich mitunter schwer. So sind fundierte Vorstöße, Hindernisse zu beseitigen, an unserer Schule bislang leider im Sande verlaufen. »Das Thema lebt hier nicht«, war da zu hören. Von Elternseite wurde eine Kosten-Nutzen-Rechnung gefordert. Bevor ein Fahrstuhl eingebaut werde, müsse man wissen, »wie viele Personen das überhaupt betrifft«. Eine Kluft tut sich auf zwischen politischer Korrektheit und tatsächlichem Denken. Zum Glück denken nicht alle Eltern so. Und immerhin gibt es Gesetze, die Minderheiten vor solchen Kurzschlüssen schützen sollen. Das »Hamburgische Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen« zum Beispiel. Es verpflichtet Behörden und Dienststellen seit 2005, Benachteiligungen behinderter Menschen zu beseitigen oder gar nicht erst entstehen zu lassen. Ziel ist es, »die gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen am Leben in der Gesellschaft zu gewährleisten und ihnen eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen«. Diese Verpflichtung soll eben auch für Barrierefreiheit sorgen und »gilt vor allem für öffentliche Gebäude und Wege«. Zwar ist eine Waldorfschule keine Behörde und auch kein öffentliches Gebäude. Mit zahlreichen Veranstaltungen nimmt sie aber eine öffentliche Aufgabe im Stadtteil wahr. Konzerte, Sommerfest und Wintermarkt sind in jedem Jahr eine wichtige Einnahmequelle. Alle sind eingeladen, in den Räumen der Schule zu speisen, Kunsthandwerkliches zu erwerben, sich zu begegnen und den Austausch zu pflegen. Alle? Für Menschen mit Assistenzbedarf kann das nicht gelten. Sie sind von der »Teilhabe«, wie das Gesetz sie einfordert, ausgeschlossen. Ohne Fahrstuhl und Rampen erreichen sie das Geschehen nicht. Fast wie in einem alten Stummfilm: Der tragische Held – ein Bettler oder Versehrter – schaut aus gegebener Distanz der gehobenen Gesellschaft beim Essen oder sorglosem Zeitvertreib zu. Kintopp aus vergangenen Tagen, aber auch heute gibt es das noch, – Schaufensterbummeln für Menschen mit Handicap.

Staatsschulen sind (noch) kein Vorbild

Und die Staatsschulen? Nach einem Beschluss der Hamburgischen Bürgerschaft haben Eltern hier nunmehr das Recht, ihr Kind mit Förderbedarf auf eine Regelschule zu schicken, wenn sie dies wollen. Die Schulen indes sind darauf wenig vorbereitet, Pädagogen fühlen sich mit »dem Problem« allein gelassen, es fehlt an Fachpersonal und qualifizierten Schulbegleitern. Eltern fordern mehr Zeit bei der Umsetzung der Inklusion. Sie sei bloß ein Deckmantel, befürchten Lehrer und Eltern gleichermaßen, um Personal einzusparen, oder, wie es heißt: umzuverteilen. Die Sonderschulen würden so mittelfristig ausbluten, eine Wahlmöglichkeit für Familien wäre dann (wieder) nicht gegeben. Diese Wahlmöglichkeit aber ist ein hohes Gut, das es zu erhalten gilt, solange das Ziel einer inklusiven Gesellschaft nicht erreicht ist. Und der Weg ist weit. Für den Übergang sind kreative Lösungen und flexible Integrations-Modelle gefragt, die sich zu allererst am Wohl des Kindes orientieren sollten. Wie das konkret aussehen könnte, müssen die Schulen im Idealfall jeweils von innen heraus gemeinsam mit Heilpädagogen, Förderlehrern und Eltern entwickeln. Vorgaben von oben machen wenig Sinn, wie Beispiele an Hamburger Regelschulen zeigen.

Waldorfschulen könnten es besser machen

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Inklusion als gesellschaftliches Ziel ist politisch wichtig und richtig. Deren Umsetzung kann jedoch nur gelingen mit grundlegenden strukturellen Veränderungen und – was die Schulen betrifft – mit einer Aufstockung des Fachpersonals, unabhängig von der Schulform. Den Staatsschulen ist zugute zu halten, dass sie sich (wenn auch durch Druck von oben) wenigstens des Themas annehmen. Es hapert bei der Umsetzung. Umso mehr, und nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Menschenkunde, müssten doch die Waldorfschulen in der Verantwortung stehen, es besser zu machen. Aber die Debatte nimmt nicht an Fahrt auf. Es führt an ihr aber kein Weg vorbei - die Waldorfschule ist kein Elfenbeinturm. Beispiele wie die Integrative Waldorfschule in Berlin-Kreuzberg oder die Waldorfschule Emmendingen machen Mut, das Thema Integration zu ergreifen. Es ist höchste Zeit, die Diskussion mit eigenen (waldorfpädagogischen) Inhalten anzureichern. Die Rudolf-Steiner-Schule Hamburg Wandsbek hat zuletzt im Kampf um das Gastschulabkommen Mut und Kraft bewiesen. Beides wünsche ich mir jetzt auch, um Barrieren in den Köpfen und solche auf den Wegen innerhalb der Schule abzubauen. Dies wäre ein erster Schritt und ein wichtiges Signal: Es ginge dabei um nichts Geringeres als um Würde, Gleichberechtigung und darum, dass »niemand wegen (...) seiner Behinderung benachteiligt« werden darf - der gesamte Wortlaut ist nachzulesen in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.

Link: M courage, Mütter mit Behinderung – selbstbestimmt leben