Menschenbild und Methoden sind grundverschieden

Von Siegmund Baldszun, Juli 2013

Antwort zum Leserbrief von Elke Hellstern »Die Fremdsprachen gehören auf den Prüfstand« in »Erziehungskunst«, April 2013.

Sehr geehrte Frau Hellstern,

Sie haben mit dem Fremdsprachenunterricht Enttäuschungen erlebt, das ist ein Faktum. Ob Sie damit jedoch nach zweieinhalb Jahren beurteilen können, was die Ziele und Wege der Fremdsprachenmethodik in der Waldorfschule ausmacht, möchte ich bezweifeln. Allein der unreflektierte Vergleich mit gymnasialen Methoden und Zielsetzungen macht deutlich, dass grundsätzliche Gesichtspunkte übersehen werden. Der methodisch-didaktische Ansatz orientiert sich in der Waldorfschule am Wesen des Kindes und hat damit andere Lehr-, Lern- und Erfahrungsbereiche auch in den Fremdsprachen im Fokus.

So ist jedes Fach nicht nur ein Lernfach, das zur Wissensaneignung und Kompetenz führen soll, sondern auch ein Beitrag zur seelischen Entwicklung der Heranwachsenden. Dies hat oft eine andere Vorgehensart zur Folge, die manche Eltern nicht bemerken oder nicht verstehen. Wie ein solcher Ansatz im Sprachunterricht fruchtbar werden kann, das wird in vielen Waldorfklassen in der ganzen Welt gezeigt. Dazu gehört, dass in diesen Klassen auch Schülerinnen und Schüler erfolgreich gefördert werden, die am Gymnasium und auch an Realschulen schon lange herausselektiert worden wären. Ihre Bemerkung hinsichtlich der angeblich häufigen Notwendigkeit von Nachhilfe in den Fremdsprachen ist in Anbetracht der Größe der Nachhilfeindustrie natürlich nicht spezifisch auf Waldorfschulen zu begrenzen: Wer wann und warum Nachhilfe benötigt, muss auch immer individuell angeschaut werden. Oft geht es hierbei um grundlegende Lernfähigkeiten, die nicht unbedingt mit dem Sprachunterricht zu tun haben. Das sehen wir zum Beispiel immer wieder in den Klassenkonferenzen.

Dass die Waldorfpädagogik trotz unausgelesener Klassen dennoch Erfolg hat, ist nicht zuletzt auch der Tatsache zu verdanken, dass die Fremdsprachen von den Kompetenzen anderer Fächer (Stichworte Willensbildung, Denkschulung, Lebenspraxis) profitieren. Das macht ja gerade die Komposition des Waldorflehrplans aus. Daran wird gearbeitet, darüber tauschen sich Lehrer aus. Zudem kommt der Entwicklung der Lehrerpersönlichkeit große Bedeutung zu. Sie muss die Beziehungsebene zum Schüler entwickeln; Lernen und Sprechen sind auf Beziehung angewiesen. Denn hier sind sich die Pädagogen weltweit inzwischen relativ einig: Es gibt viele unterschiedliche Methoden, Sprachen zu unterrichten, aber letztlich, biographisch nachhaltig, zählt: Wer ist der Lehrer? Und wie kann er sich weiter entwickeln? Auch darüber wurde auf der Internationalen Weltlehrertagung für Fremdsprachen intensiv diskutiert. Es ging um die Arbeit an den Grundlagen der Waldorfsprachpädagogik, um Qualitätsentwicklung im Fremdsprachenunterricht, nicht um oberflächliches Argumentieren gegen eine Kritik, deren nicht zu bestreitende Relevanz alle Verantwortlichen betrübt. Leider zeigt die Erfahrung, dass gerade an den Schulen, von denen selten oder nie Kolleginnen und Kollegen zu den Fortbildungen und Tagungen kommen, der Unterricht in solche Probleme führt, von denen Sie berichten.

Zur Methode sei angemerkt, dass seit vielen Jahren renommierte Fremdsprachendidaktiker deutscher Hochschulen, wie Hunfeld, Weinrich, Freudenstein, Rattunde, Legutke, Küster, Bleyhl und andere, durch ihre Forschungen und Anregungen den lehrbuchunabhängigen Ansatz der Waldorfschule gestärkt haben (siehe »Erziehungskunst«, 4/1997). Selbstverständlich sind Fotokopien nicht waldorfimmanent, und auch die Verwendung von gedruckten Verbtabellen, Grammatikbüchern und Landeskundebüchern ist nicht verboten. Es ist nur eine Frage, ab wann und warum welches Medium eingesetzt wird, und darüber denken viele Waldorflehrer nach.

Literatur: »Namen tanzen, fit in Mathe – Waldorf im Vorteil«, in: Die Welt online vom 26.09.12, http://www.welt.de/109484661

Diese Antwort bezieht sich auf den Leserbrief »Die Fremdsprachen gehören auf den Prüfstand«

Kommentare

Birgit Dressel, 03.08.13 20:08

Wissenserwerb und menschliche Entwicklung nicht gegeneinander ausspielen!

Sehr geehrter Herr Baldszun,

als ehemalige Waldorfschülerin und inzwischen Sprachwissenschaftlerin liegt mir das Thema Fremdsprachen besonders am Herzen. Die Klagen über den mangelhaften Erfolg des Fremdsprachenunterrichts ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Waldorfschule. Da anscheinend alle Bemühungen, das eigene Konzept zu stärken, immer noch noch keinen wirklichen Erfolg gebracht haben, wäre es meiner Meinung nach an der Zeit,die Methode an sich auf den Prüfstand zu stellen.

In Ihrem Brief kommt sehr deutlich zutage, worauf ich hinauswill:

Sie schreiben, dass jedes Fach nicht nur dem Wissenserwerb, sondern auch der seelischen Entwicklung dient. „Normale“ Ziele wie die Sprachbeherrschung erscheinen demgegenüber profan. Kritisch könnte man auch sagen, dass der Lernstoff zweckentfremdet wird. Der „menschenkundliche Mehrwert“ scheint darüber hinaus allzu oft mit dem Ziel des Wissenserwerbs zu kollidieren, wie die allgemeine Unzufriedenheit mit den Ergebnissen bestätigt.

Weiterhin bedeutet dies, dass Wege und Ziele bereits feststehen, so dass für die Motive von Schülern kein Raum mehr vorhanden ist. Eigenes Interesse an Fremdsprachen ist nicht mehr notwendig - oder eher sogar störend.

Ein weiteres Grundproblem sprechen Sie mit Ihrer Aussage an, in Waldorfschulen würden auch Schüler gefördert, die an anderen Schulen schon längst herausselektiert worden wären. Das heißt, die Hürde ist so niedrig, dass auch Leistungsschwache darüberspringen können. Für leistungsstarke Schüler bietet diese Hürde dann aber weder Herausforderung noch Erfolgserlebnisse.

Im Schulalltag erweist sich allerdings selbst die niedrige Hürde allzu häufig als Stolperfalle, wie die inflationäre Inanspruchnahme von Nachhilfe, die stets beklagte unwaldörfliche Teilung in Niveaugruppen oder die Herausnahme der Schwächsten aus der 2. Fremdsprache belegen. Gerade die Leistungsschwachen sind die Leidtragenden eines handwerklich schlecht gemachten Unterrichts. Begabte Schüler können einen Unterricht, der durch Strukturlosigkeit, Chaos und Beliebigkeit gekennzeichnet ist, ein Stück weit kompensieren. Man fragt sich allerdings, ob dies einen sinnvollen Einsatz ihrer Begabungen darstellt.

Zweifelhaft erscheint mir auch, ob ein Schüler, der dauerhaft über- oder unterfordert ist, in seiner seelischen Entwicklung gefördert wird. Die Erfahrung, dass der Beziehung zu einer Lehrerpersönlichkeit die nachhaltigste Bedeutung zukommt, habe ich selbst immer wieder machen können – leider nicht an der Waldorfschule! Was ist eine Beziehung zum Lehrer wert, wenn dieser die Begabungen oder Schwierigkeiten eines Schülers nicht aufgreift, ja nicht einmal erkennt?

Meine Befürchtung ist, dass es eine ganze Reihe von Schülern gibt, die durch die Zustände im Fremdsprachenunterricht der Waldorfschule nicht zweifach gewinnen, sondern doppelt verlieren.

Kommentar hinzufügen

* - Pflichtfeld

Folgen