Leser:innenbriefe

Reduktionismus als Rettung?

Christian Giersch

Das Anliegen von Prof. Schieren in seinem Beitrag »Anthroposophie in der Kritik« ist deutlich und verdienstvoll: Er möchte angesichts massiver Gegnerschaft mit alten und neuen Vorwürfen sowohl die Anthroposophie als auch die auf ihr beruhende Waldorfpädagogik in Schutz nehmen. Er widmet sich dabei neben anderen Themen besonders dem Problem des wissenschaftlichen Anspruchs der Anthroposophie und der wissenschaftlichen Begründung der Waldorfpädagogik. Nur auf diese zwei Aspekte möchte ich eingehen.

Unter der Überschrift »Wissenschaftsanspruch« führt Schieren aus: »Die von ihm (Rudolf Steiner, Anm. d. Autors) vertretene Geisteswissenschaft stellt sich in aller Konsequenz dem Forum der Wissenschaft. Seine esoterischen Aussagen erheben keinen Wahrheitsanspruch, sondern sind heuristisch als Annahmen zu verstehen ...«  In dieser Aussage kommt die Tendenz – und damit das Problem – des Beitrags bereits in wünschenswerter Klarheit zum Ausdruck. Indem eine inhaltlich und methodisch begrenzte Form von Wissenschaftlichkeit unbefragt als die allein gültige gesetzt wird, deren Forum sich jeder zu stellen hat, der am Erkenntnisprozess der Menschheit teilnehmen will, muss das Objekt der Forschung – in diesem Fall das Werk Rudolf Steiners – a priori deren Begrenzungen angepasst werden, um wenigstens den schlimmsten Ärger zu vermeiden. Dass das in Wirklichkeit kaum bis gar nicht geht, kommt immerhin an mehreren Stellen des Beitrags heraus, scheint aber für Jost Schieren die einzig mögliche Methode, Steiner für ein »modernes« Wissenschaftsverständnis zu retten. Man kann jedoch beim besten Willen die übersinnliche Forschung als wissenschaftliche Kategorie nicht aus Steiners Werk heraus-»hermeneutisieren« und in der Konsequenz den aus ihr folgenden Aussagen den Wahrheitsanspruch entziehen. Ein solches Verfahren bedeutet nichts anderes, als dem Forschungsobjekt vorgefasste und sachfremde Kategorien aufzudrängen – also ganz bestimmt kein wissenschaftlich korrektes Verhalten. Das Leugnen der Möglichkeit, bei Anwendung entsprechender Methoden und unter bestimmten Voraussetzungen sinnlichkeitsfrei zu forschen, ist und bleibt die eigentliche Schwierigkeit im Verhältnis von sinnes- und gehirnbenutzender Wissenschaft und einem Forschungsweg, der sich genau von diesen zwei Gegebenheiten freizumachen sucht. Dieser methodische Gegensatz darf nicht verschleiert werden, auch nicht, um Steiner wissenschaftlich »salonfähig« zu machen. Das ist unbequem, aber unvermeidlich, wenn man Steiner wenigstens als Beobachter von Sachverhalten ernst nehmen will, aber erst das wäre »souverän und stark wissenschaftlich«, wie es an anderer Stelle des Beitrags gefordert wird. 

Aus der gleichen Tendenz – akademische Akzeptanz gewinnen durch inhaltliches »Entschärfen« Rudolf Steiners – gehen Jost Schierens Aussagen über die Waldorfpädagogik und deren anthroposophische Grundlagen hervor. Hier wird zunächst eine Auswahl zentraler anthroposophischer Inhalte getroffen (Kosmologie, Christologie, Hierarchienlehre, Reinkarnation und Karma) und sodann behauptet, gerade diese Themen würden »von Steiner gar nicht bis kaum für die Waldorfpädagogik bemüht«. Für letztere werden lediglich »Epistemologie, Anthropologie und Psychologie« als »zentrale Merkmale« anerkannt. Das heißt: Die akademisch anstößigeren Aussagenbereiche der Anthroposophie werden sorgfältig von solchen abgetrennt, die – unter angepasster Nomenklatur – der Waldorfpädagogik vielleicht doch den begehrten Zutritt zum »Forum der Wissenschaft« ermöglichen. Hier schließt sich wieder die Frage an, ob dieses selektive Verfahren der Quellenlage entspricht, ob es also wissenschaftlich korrekt ist.

Zur Antwort sei zunächst aus der Begrüßungsansprache Rudolf Steiners vor Beginn des ersten Lehrerkurses 1919 zitiert (GA 300a, 20.8.1919): »Die Waldorfschule wird ein praktischer Beweis sein für die Durchschlagskraft der anthroposophischen Weltorientierung.« Ähnlich klingt es im bekannten letzten Brief an das Kollegium (GA 260a, 15.3.1924): »Die Waldorfschule ist zwar ein Kind der Sorge, aber vor allem ist sie ein Wahrzeichen für die Fruchtbarkeit der Anthroposophie innerhalb des geistigen Lebens der Menschheit.« Aus diesen zwei an exponierter Stelle gegebenen Formulierungen dürfte deutlich genug werden, dass die »anthroposophische Weltorientierung« als Ganzes, und nicht selektiv, hinter Rudolf Steiners Pädagogik steht. Um es an wenigstens einem Beispiel zu belegen: Die vier menschlichen Wesensglieder, zentraler Aspekt der Waldorfpädagogik, liegen den Sieben-Jahres-Rhythmen der Kindheit und damit dem Lehrplan zugrunde. Sie erscheinen bei Steiner als übersinnlich beobachtet und in ihrer Evolution mit der Erde, dem gesamten Kosmos und »leider auch« der Welt der Hierarchien verbunden (»Geheimwissenschaft im Umriss« u.a.). Und indem innerhalb dieser Wesensglieder ein so genanntes »Ich« als das menschlich Individuelle auftaucht, dem die Pädagogik insbesondere dienen soll, kommt man auch an der Vorstellung von Wiederverkörperung und Schicksal nicht vorbei. Die Beispiele ließen sich leicht vermehren, auch in Richtung der Christologie (freier christlicher Religionsunterricht) und selbstverständlich weiß dies auch Jost Schieren: Eine ganze Waldorfpädagogik ist ohne eine ganze Anthroposophie nicht zu haben. Wer es anders darstellt, ignoriert den Quellenstand und handelt insofern nicht wissenschaftlich, sondern interessengeleitet. Schieren lässt Anthroposophie für die Waldorfpädagogik lediglich als inhaltsfreies »Mittel zum Zweck« mit rein methodischer Funktion gelten. Befragen wir auch dazu eine Quelle, nämlich die schon erwähnte Ansprache Steiners vom 20. August 1919: »Wir wollen keine anthroposophische Dogmatik lehren, aber wir streben hin auf praktische Handhabung der Anthroposophie. Wir wollen umsetzen dasjenige, was auf anthroposophischem Gebiet gewonnen werden kann, in wirkliche Unterrichtspraxis. Auf den Lehrinhalt der Anthroposophie wird es viel weniger ankommen als auf die praktische Handhabung dessen, was in pädagogischer Richtung im Allgemeinen und im speziell Methodischen im besonderen aus Anthroposophie werden kann, wie Anthroposophie in Handhabung des Unterrichts übergehen kann.« Damit wird einerseits der auch von Schieren zitierte Vorwurf entkräftet, die Waldorfschule betreibe anthroposophische Mission. Andererseits – und das ist entscheidend – wird die Anthroposophie als Ausgangsbasis für einen Umsetzungsprozess in Anspruch genommen, als dessen Produkt die »Handhabung des Unterrichts« – also die eigentliche Methodik – angestrebt wird. Ohne Anthroposophie als Nährboden kann dieser Prozess gar nicht stattfinden. Entsprechend hat Rudolf Steiner das erste Kollegium aus Anthroposophen zusammengestellt, denen er über die Grundlagen nichts erzählen musste. Respektiert man also die Quellen, so zeigt sich die Unentbehrlichkeit der Anthroposophie für eine authentisch praktizierte Waldorfpädagogik.

Folgt man hingegen konsequent den Intentionen Jost Schierens, so soll unter dem erfolgreichen Markenzeichen »Waldorf « eine »epistemologisch, anthropologisch und psychologisch« orientierte Pädagogik als akademisch anerkannt etabliert werden. Die »anthroposophische Weltorientierung« (s.o.) wird zu diesem Zweck immer weiter marginalisiert, bis sie den letzten Rest von »Durchschlagskraft« (sprich: wissenschaftlicher Provokationsfähigkeit) verloren hat. Damit verkommt sie zu einem harmlosen historischen Accessoire, und die eigentliche Waldorfpädagogik wäre gerettet – zwar nicht vor ihren Gegnern, aber jedenfalls vor ihrem Begründer.  Aber das, was auf diese Weise vielleicht gerettet wird, dürfte dann wohl nur noch ein Placebo sein.

Das von Jost Schieren angebotene Verfahren kann eines jedenfalls nicht für sich reklamieren: Korrekten Umgang mit den Textgrundlagen. So wird es in seiner Durchschaubarkeit zur leichten Beute jeder ernsthaften Gegnerschaft, die sich auf die zugänglichen Quellen stützt.

Es ist eine Frage an die tätigen Waldorflehrer, ob sie – als winkende Anhalter am Rande der akademischen Autobahn – darauf hoffen, dass jemand sie irgendwohin mitnimmt, Hauptsache Autobahn! Oder ob sie den langsamen, steinigen, aber authentischen Weg der individuellen Auseinandersetzung mit Steiners Werk wählen, zwischen anthroposophischer Dogmatik hier und naturwissenschaftlichem Autoritätsanspruch dort, in täglicher Verantwortung für die Menschen, die ihre Schülerinnen und Schüler sind.

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