Richtig diagnostizieren und altersspezifisch fördern

Sebastian Kühn

Mit großem Interesse habe ich die Artikel über Fördern und Fordern gelesen. Viele wichtige Aspekte kommen zur Sprache: die Balance des Einzelnen und der Gemeinschaft, der methodische Dreischritt und das selbstständige Lernen, Harmonisierung über die unteren Sinne und Bewegungsübungen. Aber zwei Aspekte kommen mir deutlich zu kurz: erstens die Diagnose und zweitens das Altersspezifische der Förderung.

Häufig steht der nicht funktionierende Lernprozess im Fokus. Dieses Paradigma der Grundschuldidaktik herrscht, wenn auch in abgemilderter Form, mitunter auch in der Waldorfschule. Das Motto lautet: Wenn wir die Lernprozesse gut in Gang halten, dann geht es dem Kind gut. Dem ist auch zuzustimmen, nur benötigt es einen Kontext, sonst führt dieser Ansatz zu einseitigen Folgen oder ist unwirksam.

Für eine richtige Diagnose muss ich ein genaues Bild davon haben, was bei einem Kind mit Lernstörungen vorliegt. – Ist es etwas Konstitutionelles oder eine schlichte Blockade? Ist das Kind in seiner körperlichen Entwicklung noch nicht soweit, einen weiteren Lernschritt zu tun? Gerade in den unteren Klassen muss hier große Sorgfalt walten, da bei Problemen die körperliche und seelische Reifung häufig im Vordergrund steht und eine direkte Förderung des Lernens sogar kontraproduktiv wirken kann. Es gibt dazu viele gute Hinweise in dem Artikel von Beate Schram, die nicht direkt versuchen, Lernprozesse zu ermöglichen, wenn sie noch nicht dran sind.

Ferner ist zu beachten, dass gerade intellektuelle Fördermethoden auch bei jungen Kindern zwar zu »funktionieren« und »anzuschlagen« scheinen, aber erst später, manchmal nach Jahren, erneut Probleme auftauchen, weil sie nicht in die Tiefe gingen. Die Wirksamkeit einer Methode besagt also nicht automatisch, dass die Methode richtig ist in Bezug auf die Gesamtentwicklung des Kindes.

Aus meiner Sicht muss daher vor Einleitung von Fördermaßnahmen wie Einzelförderung oder materialgestützter Förderung eine klare Diagnose stehen. Eine Kinderbesprechung, wie sie Christof Wiechert empfiehlt und darstellt, ist eine mögliche gute Herangehensweise.

Das Altersspezifische der Förderung hängt eng mit der Diagnose zusammen. Die Menschenkunde Rudolf Steiners liefert hierzu eine Fülle von Gesichtspunkten, die häufig zu wenig beachtet werden. Beispiele hierfür wären: Ist das Kind noch vor dem Rubikon? Wie ist das Temperament gelagert? Wie weit steht es in der Pubertät? Je nach Alter und Entwicklungsstand ergeben sich dann ganz verschiedene Gesichtspunkte für Förderung: Direkt oder indirekt? Intellektuell oder motorisch? Künstlerisch oder strukturell?

Die Menschenkunde zeigt deutlich, dass es Rudolf Steiner stets um eine ganzheitliche und altersspezifische Betrachtung ging und nicht um Teilleistungsbereiche. Ziel einer Förderung sollte deshalb immer die gesunde Gesamtentwicklung des Kindes sein.

Zum Autor: Dr. Sebastian Kühn, Lehrer für Mathematik, Physik und freien Religionsunterricht in Siegen seit 1998.

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