Leser:innenbriefe

Schöpfungsmythen im Unterricht

Jörg-Johannes Jäger

Zu den Ausführungen von Herrn Christoph Doll über die Auswahl der Schöpfungsmythen in den Waldorfschulen möchte ich etwas hinzufügen. Einerseits sind viele seiner Ansichten überzeugend. Besonders wichtig empfand ich die Betonung der Authentizität des Lehrers, seiner Präsenz, die von den Kindern wahrgenommen wird. Sie wollen am Ich des Erwachsenen ihr eigenes Ich-Werden ermutigen. Andrerseits meint der Verfasser, wenn ich ihn richtig verstanden habe, dass es beliebig sei, welche Mythologie man für den Unterricht der vierten Klasse auswählt. Es hinge allein davon ab, zu welcher Mythologie der Lehrer einen Zugang habe. Ich denke jedoch, dass die verschiedenen Mythologien der Welt in einem direkten Zusammenhang stehen mit dem jeweiligen Volk, mit dessen Fähigkeiten und dessen besonderen Aufgaben. Daher sind die Schöpfungsmythologien, in denen die Taten der Götter verkündet werden, so verschieden. In ihnen spiegelt sich die Seelenstimmung und die Bilderwelt des jeweiligen Volkes. So liegt es nahe, den Kindern die Mythologie des eigenen Volkes so erlebnisnah wie möglich zu erzählen. Im Bereich der nordischen Völker Europas liegt es daher nahe, die nordisch-germanische Mythologie heranzuziehen. Im Anschluss kann jede andere Mythologie als Erweiterung des Weltbildes zur Geltung kommen.

Zunächst erscheint es – zugegebenermaßen – mühsam, einen Zugang zur nordisch-germanischen Mythologie, der »Edda« zu finden. Hat man aber hinter ihrer lebensprallen Bilderwelt den tiefen Wahrheitsgehalt erkannt, so fühlt man sich beschenkt und erfrischt. Rudolf Steiner wird nicht müde die Bedeutung der nordisch-germanischen Mythologie für die Kinder, ja auch für alle Erwachsenen, zu betonen, denn in allen Abenteuern der Götter geht es stets um die Ich-Entwicklung, die Ich-Ermutigung. In den gewaltigen Bildern der Götterdämmerung wird der Kampf mit verschiedenen dem Ich feindlichen Mächten geschildert. Diese siegen, aber aus den Fluten ersteht eine neue Welt, in der eine neue Göttertrinität leuchtend erscheint. Ich denke, das ist absolut zeitgemäß!

Es folgen einige Zitate Rudolf Steiners zur »Edda«:

»Das Menschengeheimnis im Zusammenhang mit allen Geheimnissen des Kosmos, … das liegt… so tief, wie sonst nirgends diesen alten nordischen Mysterien zugrunde.« (1)

»So sonderbar ähnlich [im Vergleich zur griechischen Mythologie] manche Dinge der nordischen Mythologie sind, so muss doch gesagt werden, dass es keine andere Mythologie der Erde gibt, welche in ihrem eigentümlichen Aufbau, in ihrer eigenartigen Durchführung ein bedeutsameres oder klareres Bild der Weltevolution gibt, als diese nordische Mythologie, so dass dieses Bild als eine Vorstufe des geisteswissenschaftlichen Bildes der Weltevolution gelten kann.« (2)

Es » entwickelten die [nordischen] Völker verhältnismäßig außerordentlich früh … das Anschauen des objektiven Ich … Besonders die germanischen Völker, die äußerlich auf einer geringen Kulturstufe standen, … sahen hellseherisch das Morgenrot des eigenen Ich, das imaginative Bild des Ich. In der Welt, die sie als eine astralische um sich hatten, sahen sie das Ich objektiv längst unter den anderen Wesen, die sie hellseherisch wahrnahmen.« (3)

Aus diesen Zitaten wird ersichtlich, wie stark die nordischen Menschen schon in frühester Zeit das Ich als Göttergeschenk erlebten. Die »Edda« kann somit den Kindern helfen, das eigene Ich als Dirigent im eigenen Seelenleben zu erfassen.

Zum Einstieg in das Thema bildet das Buch »Die Bildsprache der Edda« (4) eine gute und leicht zugängliche Möglichkeit, sich mit der nordisch-germanischen Mythologie zu verbinden.

Anmerkungen:

1. Rudolf Steiner: GA 173, 21.12.1916, S.230

2. Rudolf Steiner: GA 121, 12. 6. 1910, S.12 abends

3. Rudolf Steiner: GA 121,  15.6.1910, S. 148

4. Gundula Jäger: Die Bildsprache der Edda, 2. Auflage 2021 Verlag Urachhaus

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