Was steckt hinter dem Krippen-Boom?

Fabrizio Venturini

Endlich wagt jemand kritische Fragen an einen Zeittrend zu stellen, der das Leben vieler kleiner Kinder nachhaltig prägt. In wessen Sinne ist es eigentlich, wenn immer mehr und immer jüngere Kinder immer länger in institutionalisierte Betreuungseinrichtungen gesteckt werden? Im Sinne der Kinder ist es nicht! Im Sinne der Gesundheit (Salutogenese) ist es nicht! Im Sinne der Waldorfpädagogik (mit dem Ziel, zu freien mündigen Menschen zu bilden) ist es nicht! Im Sinne einer zukunftsfähigen sozialen Gesellschaft ist es nicht! Im Sinne der meisten Eltern ist es auch nicht; notgedrungen müssen beide Elternteile arbeiten gehen, damit sie finanziell über die Runden kommen! Was steckt hinter dem Krippen-Boom?

Gesunde kleine Kinder, die aus ihrer natürlichen Familienumgebung herausgerissen werden, wehren sich; sie schreien, sie leiden, sie schütten stark überhöhte Stresshormone aus, sie werden aggressiv, sie stumpfen schließlich ab und passen sich nur noch an. Das ist wissenschaftlich belegt.

Saßmannshausen sagt völlig zu recht, dass Kinder unter vier oder frühestens drei Jahren noch gar nicht gruppenfähig sind. Es gibt eine Entwicklungsreife für den Kindergarten, die man nicht beliebig nach vorne verlegen kann, ohne Schaden an Leib und Seele zu verursachen. Das kleine Kind hat eine duale Beziehungsmodalität, es ist angewiesen auf einen verlässlichen Bezug zu einer Person. – Aber ist es denn beliebig, zu wem ein solches Verhältnis aufgebaut wird? Sind die Bezugspersonen auswechselbar? Anthroposophisch gesehen, hat jedes Kind sich seine Eltern ausgesucht, hat sich vorgeburtlich vorbereitet auf deren spezifische Personalität, auf deren Charakter und ätherische Struktur. Erzieher in einer Kinderkrippe mit Ganztagsbetreuung, neuerdings sogar Rund-um-die-Uhr-Schichtdienst, können das selbst bei bester Qualifikation nicht abdecken, nicht für die völlig verschiedenen Kinder, die dort zusammenkommen.

Der von Saßmannshausen erwähnte Kinderarzt Rainer Böhm warnt aufgrund seiner Unter­suchungen schon seit Jahren vor dieser Entwicklung. Zu Unrecht wird er als Einzelkämpfer abgestempelt und seine Forschung behindert. Eine Anzahl weiterer Forschungs­- ergebnisse aus Österreich, Schweden und England, belegen die psycho-emotionalen und immunologischen Folgeschäden institutionalisierter frühkindlicher Betreuung. Dass diese institutionalisierte Form der Erziehung die moderne Achtung vor dem Kinde zum Ausdruck bringe, ist völliger Nonsens! Saßmannshausen hat Recht, das gehört zur ideologischen Propaganda einer Wirtschaftslobby, die von den Gewinnaussichten in der Betreuungsbranche profitiert und den Staat mit dem Schlagwort von früher und kontrollierbarer Bildungsförderung zu Zuschuss-Zahlungen verlockt hat.

Auch bei Waldorfs boomen die Kleinkindgruppen, weil es im Moment Gelder dafür gibt. Man bedenkt aber nicht, was es für Auswirkungen hat, wenn immer weniger Kinder geboren werden und man sehr bald gezwungen sein wird, schon aus Bestandsgründen immer mehr und immer jüngere Kinder aufzunehmen und dafür auch bei Eltern zu werben, die die Betreuung innerfamiliär leisten könnten. So gerät man in Zwänge, die die Ansätze und Ziele der Waldorfpädagogik schleichend unter­höhlen.

Denn wie soll Waldorfpädagogik mit ihrem bewährten Klassenlehrerprinzip in der Schule bei einem Kind greifen, das vorher bereits zahlreiche Gruppen in Krippe, Krabbelstube, Kindergarten und Vorschulklasse durchlaufen hat? Wo es die schulischen Bildungsinhalte bereits viel früher und sehr unterschiedlich aufgenommen hat? In der Schule besteht dann dafür bald kein Interesse mehr. Stattdessen wollen sie das versäumte Spielen dort nachholen.

Wenn die Bindungsforschung Recht hat mit ihrer Feststellung, dass mündige Freiheit im Erwachsenenalter aus der Metamorphose der sicheren Bindung und Geborgenheit in der frühen Kindheit entsteht, dann droht das große Ziel der Waldorfpädagogik verloren zu gehen, wenn durch den häufigen Personenwechsel diese Basis fehlt. Aus nervösen, blassen und unsicheren Kindern werden unterwürfige, autoritätsgläubige und anpasslerische Erwachsene. Wollen wir denn durch Anpassung zur Anpasslerei erziehen?

Mir ist kein Ausspruch von Rudolf Steiner bekannt, der eine institutionalisierte frühkindliche Betreuung gutgeheißen hätte. »Waldorfpädagogik von 0 bis 18« zu propagieren, ist eine mit den staatlichen Vorgaben kokettierende Irreführung. Es sind seit dem Krippenboom in Deutschland fünfmal so viel Kinder in Einrichtungen gegeben worden als früher. Dass berufstätige Frauen in gleichem Maße Karriere gemacht hätten, ist nicht bekannt. Probleme der Arbeitswelt müssen mit Reformen in der Arbeitswelt selber gelöst werden – nicht auf dem Rücken der Kinder.