Wer lehrt (noch) das Mysterium der Liebe?

Holger Niederhausen

Valentin Hacken wendet sich in seinem Beitrag über Sexualkunde gegen eine »altertümliche« Anschauung, die angeblich »den Stand der universitären Wissenschaften ignorant ausblendet«. Statt »Mystifizierung« propagiert er Gender-Mainstreaming.

Was ist Gender-Mainstreaming? Laut der Webseite des »Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend« bedeutet dieses Leitwort, »bei allen gesellschaftlichen Vorhaben die unterschiedlichen Lebenssituationen und Interessen von Frauen und Männern von vornherein und regelmäßig zu berücksichtigen«. Das klingt gut, nur weiß man nicht, ob die Menschen, die dafür eintreten, davon ausgehen, dass es zwischen Frauen und Männern Unterschiede gibt – oder nicht. Betonen die Anhänger des »Gender-Mainstreaming«, dass bisher künstliche Unterschiede aufgerichtet wurden – oder dass die Unterschiede zu wenig berücksichtigt werden? Oder beides?

Oder geht es darum, dass das Geschlecht immer weniger eine Rolle spielen soll – denn, wenn alles »gleichberechtigt« und »gleichgestellt« ist, also alles möglich ist –, dann lautet die Aussage: Schaut nicht auf das Geschlecht, schaut auch nicht darauf, wie ein Mensch seine Geschlechtlichkeit definiert, sondern schaut einzig und allein auf das Individuum, wie es sich als ganzer Mensch darlebt! Ich frage mich, warum Hacken so nebenbei Rudolf Steiner ad acta legt und nur in einem Nebensatz von seinen angeblich »unhaltbarsten Stellen« spricht. Mehr Hochmut angesichts dieses ganzen Themas ist kaum denkbar – und weniger historisches Bewusstsein auch nicht. Denn es war gerade Steiner, der immer wieder betont hat, dass es um den Menschen geht, nicht um sein Geschlecht. Die Anthroposophie hinkt allen anglizistischen »Gender-Mainstreaming-Programmen« nicht um ein Jahrhundert hinterher, sondern ist ihnen eher um Jahrhunderte voraus. Krampfhaft versucht die »moderne Zeit«, Gleichberechtigung zu erreichen, doch in denjenigen Menschen, in denen die Anthroposophie Leben wird, ist die Gleichberechtigung zutiefst erreicht, denn sie ist gar keine Frage, weil in der Begegnung die Individualität entscheidend ist; weil derjenige Mensch, der zwischen Wesen und Erscheinung, zwischen Geist und Körper, zwischen Menschheit und Geschlechtlichkeit zu unterscheiden weiß, sowohl die (nicht hintergehbare) Gleichheit der Menschen erlebt, als auch die Unterschiedlichkeit jedes Individuums, die nicht erst bei der Geschlechtlichkeit beginnt, sich hier aber fortsetzt.

Die Dimensionslosigkeit der Vielfalt

Die Aufgabe eines menschlichen Sexualkunde-Unterrichts kann es niemals sein, möglichst viele »Dimensionen« aufzuzeigen. Die Aufgabe kann es nicht sein, die Kinder dazu zu befähigen, sich »auch in einem Porno zurechtzufinden«. Die heutige Aufspreizung der Sexualität in eine unüberschaubare Vielfalt von Praktiken, Erscheinungsformen, Kombinationen – das ist die eigentliche Dimensionslosigkeit, denn sie gaukelt den Menschen vor, dass das Wesentliche an der Geschlechtlichkeit die geschlechtliche Lust sei, ja mehr noch: dass derjenige, der auf der Suche nach dieser Lust keine »ausgefallenen« Wege geht, geradezu selbst schon abartig, langweilig oder prüde sei.

Die Dimensionslosigkeit besteht in der fortwährenden Betonung der »Vielfalt« – einer Vielfalt, die immer auf sexuelle Praktiken und Vorlieben, also auf das Körperliche bezogen ist. In Bezug auf das Körperliche sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt – Grenzen gibt es allenfalls für die Gelenkigkeit des menschlichen Körpers und die Einsatzmöglichkeiten der zum Sex hinzugezogenen Hilfsmittel und Gerätschaften.

Leib und Seele

Natürlich ist es die Aufgabe einer pädagogischen Aufklärung, die ganze Spannbreite dessen zu berühren, was wir mit »Liebe« oder auch »Sex« bezeichnen. Pädagogik besteht aber nicht nur in Aufklärung, sondern hat auch einen wesentlich moralischen Inhalt.

Ein wichtiges Ziel der Pädagogik ist es, dass der Unterschied zwischen Leib und Seele erlebbar wird.

Das Seelische darf sich heute überhaupt nicht mehr in aller Reinheit offenbaren. Wo kann heute das reine Seelische als eine »gleichberechtigte« Möglichkeit vertreten werden, ohne sich der Lächerlichkeit und dem Spott preiszugeben? Man würde einem solchen Menschen klarzumachen versuchen, dass er verklemmt und »dimensionslos« sei.

Wir leben längst nicht mehr in einer Welt, in der alles einfach nur »möglich« ist, sondern in einer Welt, in der ein ungeheurer Druck dahingehend besteht, das »Mögliche« auch zu verwirklichen. Die Botschaft ist – radikal formuliert: In diesem Leben, im Leben des Menschen, hat Sex einen enormen Stellenwert. Du kannst davor weglaufen – oder du kannst dich dem hingeben. Tue das Letztere – dann bist du modern und gehörst dazu. … Und weil es im Leben vor allem um Sex geht, tust du gut daran, ihn auch wirklich zu wollen, egal wie alt du bist. Wenn du das nicht als Hauptsache und wesentliches Ziel empfindest, ist mit dir irgendetwas falsch.

Die Rettung des Seelischen

Die Frage ist nicht in erster Linie, ob sich ein Junge zum Beispiel zu einem Jungen hingezogen fühlt. Die Frage ist, welchen Stellenwert das Körperliche und insbesondere das Sexuelle in unserer heutigen Welt hat – und welchen Stellenwert dieses Körperliche und insbesondere das Sexuelle hätte, wenn man wirklich einmal Ernst machen würde mit einem Erleben des vollen Menschentums, das aus Leib, Seele und Geist besteht.

Leib haben wir heute – eine Welt des Leiblichen mit ein wenig Seele. In der Sehnsucht nach Zuwendung, Anerkennung, Geborgenheit macht sich dieses seelische Bedürfnis immer wieder geltend. Doch die äußere Welt, wie sie heute ist, widerspricht diesem Bedürfnis. Suggeriert wird die volle Freiheit, die volle Beliebigkeit, die ungeheure Bedeutung des Körperlichen. Die sogenannte Freiheit und Freizügigkeit hat ihren Preis: die Haltlosigkeit der Seele, die Unverbindlichkeit, die zur Verantwortungslosigkeit und schließlich zur Unfreiheit wird.

Diese Art von Freiheit nimmt der Seele alles, was sie hat: Sie verliert sich selbst. Im Bewusstsein, »frei« zu sein, alles zu dürfen, und in dem Sog, der auf die Seele durch massive Suggestion ausgeübt wird – sie müsse auch alles wollen, was möglich ist – verliert sie ihr Empfinden für ihr reines Zentrum, für ihren innersten moralischen Mittelpunkt, und verliert sich in der Peripherie, wo sie mehr und mehr einem Egoismus frönt.

Doch im Verzicht liegt gerade die Rettung des Seelischen. Man kann entweder den Sex in all seinen Varianten kennenlernen, vielleicht noch so früh wie möglich, und dabei mit dem Seelischen immer tiefer in das Leibliche hineingezogen werden – oder aber man kann warten, mit allem, sogar mit dem harmlosen Kuss, bis einem derjenige Mensch begegnet, der die eigene Seele bis ins Innerste erschüttert, so dass sie sich ihm – oder ihr – hingeben will, und niemandem sonst.

Der Esoteriker Hans Sterneder hat dieses Geheimnis der Reinheit der Seele in seinem Buch »Die Neugeburt der Ehe« wunderbar beschrieben.

Hacken rennt mit seinem Aufsatz offene Türen ein. Es ist keine Frage, dass ein Pädagoge Verständnis für alle Lebensformen haben sollte und seinen Schülern eine umfassende Toleranz und ein umfassendes Vertrauen vermitteln sollte.

Doch die Frage ist: Wird es in Zukunft noch Pädagogen geben, die die Fähigkeit haben, ihren Schülern und Schülerinnen auch zu vermitteln, dass es einen Unterschied macht, ob man alles ausprobiert oder nicht? Ob man die »Liebe« als etwas Banales behandelt – oder von einem Geheimnis umgeben bleiben lässt? Wird es noch Pädagogen geben, die es schaffen, die Schüler den Unterschied erleben zu lassen, ob man auf dem Schulhof herumknutscht oder ob man sich küsst, wenn beide Seelen ganz allein sind? Nicht aus Verklemmtheit, sondern gerade, weil man von der Liebe so hoch denkt, so tief empfindet, rein und zart.

Aufklärung und Sexualkunde ist das eine, eine Geheimniskunde, ein Unterricht im Erleben des Mysteriums der Liebe das andere.