Wider das Berechtigungsunwesen

Markus von Schwanenflügel

Lieber Frank,

das war ja eine Steilvorlage für Deinen alten Kollegen! Wieder einmal plädierst Du für eine staatliche Anerkennung des Waldorfabschlusses; und das, obwohl Du andernorts* vor knapp einem Jahr einen Aufsatz veröffentlicht hast, in dem wesentliche Gesichtspunkte zu dem Thema unter der Zwischenüberschrift »Befähigungen statt Berechtigungen« zusammengefasst sind – und doch willst Du weiterhin unseren Waldorfabschluss zu einer Berechtigung machen? Diese Widersprüchlichkeit ist eine Folge davon, dass Du die Sache nicht zu Ende denkst. Also mache ich noch einmal den Versuch, Dich und vor allem die Waldorföffentlichkeit zu überzeugen, dass eine staatliche Anerkennung zu keiner Befreiung, sondern zu einer weiteren schleichenden »Verstaatlichung« unserer Oberstufe führt.

Keine Validität, sondern Anpassungsdruck

Damit verständlich wird, dass dieses Thema den Kern der Waldorfpädagogik als Erziehung zur Freiheit berührt, möchte ich noch einmal die beiden gravierenden Mängel des Berechtigungs­wesens nennen:

1. Das Mindeste, was von einem Verfahren zur Erlangung einer Berechtigung erwartet werden kann, ist, dass es valide ist, damit es gerecht sein kann. Wie aber Untersuchungen immer wieder bestätigt haben, erfüllt keine Methode zur Bewertung von Schülerleistungen diese Forderung, und zwar umso weniger, je komplexer die zu beurteilende Kompetenz ist.

2. Die notwendigerweise Schülern oder Lehrern bekannten Prüfungsanforderungen führen, weil so viel für die Zukunft von den Abschlüssen abhängt, zu einem massiven Anpassungsdruck auf die Schüler und auf die Lehrer. Die für das Lernen so entscheidende Beziehung zwischen Lehrer und Schüler, aber auch die von Schüler und Lehrer zu den »Lerninhalten« wird korrumpiert – und das vom Ende der Schulzeit her rückwärts bis weit in die Mittelstufe hinein.

Vor diesem Hintergrund ist es mir schleierhaft, warum Du für eine Anerkennung eines Waldorfabschlusses als Berechtigung plädierst. Eine solche wäre doch nur sinnvoll, wenn die besonderen Inhalte – Jahresarbeit, Eurythmie, künstlerische Kompetenzen, Selbstständigkeit, handwerkliche Fähigkeiten, um deren Berücksichtigung es Dir ja geht, adäquat und gerecht beurteilt werden könnten und wenn der Wunsch, einen guten Waldorfabschluss etwa durch eine mit »gut« bewertete Jahresarbeit zu machen, nicht zu einem entsprechenden Anpassungsdruck führen würde. Das Gegenteil ist doch der Fall: Gerade die sensiblen waldorfspezifischen »Inhalte« sind diesbezüglich besonders gefährdet, denn sie sind besonders schwer zu beurteilen.

Dein Aufruf erweckt allerdings den Eindruck, dass die Lehrer um eine Bewertung der Schülerleistungen herumkämen. Du erwähnst zwar den Deutschen Qualitätsrahmen (DQR), der für eine Anerkennung maßgeblich wäre, öffnest aber die Büchse der Pandora nicht: Dann könnten nämlich die Leser bemerken, dass nicht nur jede für den Abschluss relevante Leistung bewertet werden muss, sondern dass der DQR von acht Kompetenzniveaus ausgeht – einem von ihnen müsste der Waldorfabschluss zugeordnet werden. Du schlägst das der Fachhochschulreife und dem Abitur entsprechende Niveau vor. Die Waldorfschule soll aber für alle Kinder sein! Aber nicht alle haben die Kompetenzen, »die zur selbstständigen Planung und Bearbeitung fachlicher Aufgabenstellungen in einem umfassenden, sich verändernden Lernbereich oder beruflichen Tätigkeitsfeld benötigt werden«. Auch die Schule, an der wir gemeinsam unterrichtet haben, kann doch stolz darauf sein, dass sie in ihren Klassen nicht nur künftige Fachhochschüler und Abiturienten hat, sondern Schüler von jedem dieser Niveaus. Alle standen sie jedes Jahr gemeinsam beim Waldorfabschlussfest auf der Bühne und Du willst einigen von ihnen in Zukunft »Deinen« Waldorfabschluss nicht geben? Ich bin fassungslos!

Diese Konsequenz hast Du vielleicht nicht bemerkt, da Du Deine Überlegungen begründest, indem Du Dich auf die Dreigliederung des sozialen Organismus beziehst. Aber denkst Du wirklich, dass Steiner mit der von Dir zitierten Passage über den künftigen Einfluss der Lehrer auf die Schulgesetze gemeint haben könnte, dass es rechtlich sachgemäß und inhaltlich sinnvoll wäre, dass die Waldorflehrer ausgerechnet über eine Veränderung des Berechtigungswesens beschließen? Ich würde das für ein Missverständnis halten!

Souverän bleiben

Solange die Waldorfschulen so intensiv wie bisher an der Vergabe der Abschlüsse selbst beteiligt sein wollen, gibt es keinen Königsweg aus der Misere. Es gibt aber eine Haltung, mit der man sich gegen die Rückwirkungen wappnen kann. Sie lässt sich mit dem zugegeben etwas elitär klingenden Satz zusammenfassen: »Über das Abitur reden wir nicht, wir machen es.« Diese Souveränität gegenüber den staatlichen Vorgaben, die auch aus den Voten von Steiner in den Konferenzen spricht, ist verloren gegangen. Ich bin aber überzeugt, dass wir sie wiedergewinnen können, indem wir uns in der kollegialen Arbeit solidarisch der Grundlagen der Waldorfpädagogik versichern. Dann können wir dem Kaiser geben, was des Kaisers ist und brauchen nicht zum 100-Jährigen unseren Waldorfabschluss dem Berechtigungs-Unwesen in den Rachen zu werfen.

Anlässlich des Jubiläums fragst Du einleitend: »Was brauchen die Schüler wirklich?« Jedenfalls steht Deine Antwort den Intentionen von Henning Kullak-Ublick diametral entgegen, der als Koordinator von Waldorf100 »nach einer Phase der Konsolidierung von ›Waldorf‹ als Marke vor allem eine Zeitnotwendigkeit sieht: ›Lehrern Mut zu machen zur persönlichen Initiative‹«. Und er fügt hinzu: »Denn Mutmachen basiert darauf, dass der Einzelne ein größtmögliches Maß an Freiheit hat« (vgl. Erziehungskunst Spezial 7/8 2018). Mit besten Grüßen, Dein Markus

* F. de Vries u.a.: Abschlüsse und Leistungsdokumentation. Bedeutung und Gestaltungsmöglichkeiten von Abschlüssen an Waldorfschulen, in: L. Weiss, C. Willmann (Hrsg.): Sinnorientiert lernen – Zieloffen gestalten, Zum Leistungsverständnis der Waldorfpädagogik, Wien 2018

Zum Autor: Dr. Markus von Schwanenflügel ist seit 37 Jahren Oberstufenlehrer, zunächst an der Rudolf-Steiner-Schule Bochum, später an der Windrather Talschule; seit 18 Jahren auch Aufbau des Jugendhof Naatsaku in Estland. www.naatsaku.com