Wissenschaft oder Spiegelfechterei?

Heinz Mosmann

Schlagwörter und kein Ende! Nach dem »Verschwörungstheoretiker« wird uns nun eine weitere Phrase aus dem Arsenal der politischen Propaganda aufgetischt: der »Antiamerikanismus«. Als Gegenstand einer wissenschaftlichen Dissertation kommt er gewichtig daher. Ich glaube allerdings nicht, dass die besorgten und zeitkritischen Leser, die bisher auf ihre eigenständige Urteilsfähigkeit vertrauten, sich von dem wissenschaftlichen Nimbus beeindrucken lassen, geschweige denn sich in die nationalistische Schmuddelecke verweisen lassen.

Dass es tiefsitzende »Ressentiments«, sprich Abneigungen und Vorurteile, gegenüber anderen Nationen gibt, ist ja nicht gerade eine neue Entdeckung. Betroffen sind alle, Franzosen, Deutsche, Schweizer, Chinesen, Russen und eben auch Amerikaner. Mir leuchtet auch ein, dass solche Vorurteile dadurch »befeuert« werden, dass »die USA eine Weltmacht sind«, wie Herr Jaecker pauschal einräumt, »und ihre Interessen mitunter rücksichtslos durchsetzen«. Auch ist ja offensichtlich, dass es diverse »politische Entwicklungen« gibt wie »zum Beispiel Abu Ghraib, Guantanamo oder die NSA-Überwachung…« Es war mir allerdings bislang noch unbekannt, dass der Antiamerikanismus solche Dimensionen angenommen hat, dass man ihn unter Wahrung der Political Correctness in einem Atemzug mit der Jahrhunderte alten Diskriminierung und Verfolgung der Juden gleichsetzen kann. Mir schien bisher, wenn es hier überhaupt eine Parallele gibt, dann vielleicht aufgrund der Tatsache, dass Kritik an der israelischen Regierungspolitik mancherorts ebenso kurzschlüssig mit Antisemitismus gleichgesetzt wird.

Vielleicht sind die merkwürdigen Ansichten des Wissenschaftlers dadurch zu erklären, dass die extensive Beschäftigung mit einem Gegenstand dessen gesellschaftliche Relevanz überproportional erscheinen lässt. Jedenfalls lasse ich mir von der akademischen Bedeutungsperspektive nicht die Sicht auf die tatsächlichen Verhältnisse verstellen. Meine eigenen Beobachtungen und Wahrnehmungen sind nun einmal ganz anders und ergeben keineswegs das Bild einer antiamerikanischen Verschwörung unserer Medien. Wenn Herr Jaecker davon spricht, dass man »nicht offen an Ereignisse wie den 11. September oder den Ukraine-Krieg« herangegangen ist, so kann ich dem nur beipflichten, wenn auch unter völlig anderen Vorzeichen. Der 11. September wurde sowohl von der Bush-Administration als auch von der überwiegenden Anzahl unserer »Leitmedien« umgehend als antiamerikanische Verschwörung und Angriff auf die »westliche Wertegemeinschaft« gedeutet. Bestärkt durch die weltweite Anteilnahme kam es zu jener unsinnigen »Kriegserklärung an den Terrorismus«, mit der die folgenschweren Interventionen gerechtfertigt wurden, durch die »Amerika«, so der SPIEGEL, »seine Werte verlor«. Der Ukraine-Konflikt andererseits hatte und hat den vielleicht größten Propagandafeldzug der Nachkriegsgeschichte im Gefolge, mit dem dieselbe »westliche Wertegemeinschaft« dank ihrer Unkenntnis und Missachtung der tatsächlichen Verhältnisse in Osteuropa und dank Jahrhunderte alter russophober Ressentiments zum Schulterschluss gegen die »russische Gefahr« eingeschworen werden soll. Solche Stimmungen sind eben unabdingbar für eine Ostpolitik, die von weitgreifenden geostrategischen Zielen und militärischen Optionen bestimmt wird und deshalb – nicht nur in Russland – zunehmend als Bedrohung empfunden wird.

Dass ein wachsender Teil der Bevölkerung in den offiziellen Verlautbarungen von Politikern und Medien eine Verschwörung gegen den gesunden Menschenverstand sieht und die Aufdeckung der wirklichen Interessen fordert, die den gegenwärtigen Konflikt anheizen, könnte man ja als Bewusstseinsprozess verstehen, der den blinden Fatalismus von »Krieg und Frieden« zu überwinden trachtet. Indem sich nun aber auch »krude Verschwörungsphantasien« und abstruse politische Spekulationen mithilfe dieser kritischen Friedenssehnsucht publikumswirksam in Szene setzen, wird gerade solchen Interessen zugearbeitet, die hinter einer tagtäglich bis zum Abwinken wiederholten Verschwörungsterminologie und Feindbildpropaganda ein offenbares Geheimnis bleiben wollen. Gegenüber dieser »Querfront« scheint das individuelle Urteil ohnmächtig zu sein. In einer demokratisch legitimierten Öffentlichkeitsarbeit werden eben Machtinteressen nicht durch Unterdrückung der Meinungs- und Redefreiheit verfolgt, sondern durch Diffamierung und Unterstellung, durch Suggestion und nicht zuletzt durch inflationären Wortgebrauch – »ein Schelm, wer Böses dabei denkt«.

Die öffentliche Meinung zu manipulieren ist in der Tat nicht allzu schwer, wenn man die richtigen Informationskanäle beherrscht. Denn sie ist ein Tummelplatz von Vorurteilen, Widersprüchen und Phrasen, die vom ungeübten Auge oder Ohr oft nicht als solche identifiziert werden können, aber die Aufmerksamkeit besetzen, gedankliche Verwirrung stiften und das Vertrauen in die eigene Urteilsfähigkeit untergraben. Wir müssen deshalb lernen, genauer hinzuhören. Wenn ein Interviewer seinem Gegenüber so offen sekundiert, wie im vorliegenden Fall, muss sich Argwohn regen. Was fängt man mit der »Frage« an: »Verschwörungstheorien werden vor allem über den 11. September verbreitet und stehen damit automatisch im Zusammenhang mit dem Antiamerikanismus. Wie erklären Sie sich diesen Zusammenhang?« Wer die Ereignisse miterlebt hat, mag sich hier verwirrt fragen: Wie kommt man denn auf diesen »automatischen Zusammenhang«? Da steht er wie ein monolithischer Block, der Antiamerikanismus, im Bewusstsein des Fragenden. Da kann man nur dem Befragten recht geben: »Problematisch ist der Automatismus.«

Erfreulich sind die Einsichten, die Herr Jaecker immer wieder einflicht, etwa wenn er wiederholt betont, dass Kritik am Vorgehen der amerikanischen Regierung und ihrer Geheimdienste mit Antiamerikanismus nichts zu tun habe. Weniger erfreulich ist, dass er als Forscher bisher noch nicht entdeckt hat, dass der weitaus überwiegende Teil der des »Antiamerikanismus« bezichtigten Kritiker die eigene Regierung und ihre Geheimdienste keineswegs ausblendet. Wenig erfreulich auch, wenn ihm nicht auffällt, dass die Kritik sich weniger auf Ressentiments stützt, sondern auf das dreiste Vorgehen und die unverhohlenen Aussagen von Protagonisten und Strategen dieser Politik. Geradezu unverständlich ist es schließlich, wenn er aus dieser berechtigten Kritik keine Konsequenzen zieht, sondern ihren Gegenstand bagatellisiert und im Schatten eines vermeintlichen Antiamerikanismus zu verbergen sucht.

Kritik ist gut, Kritik ist erwünscht, schließlich sind wir ja eine offene Gesellschaft und stehen zum Meinungspluralismus. Allein, schon der bloße Hinweis auf offenkundige Fakten oder die Wiedergabe von Äußerungen der politischen Elite ist manchmal so schockierend, dass man unweigerlich in den Ruf kommt, einer Verschwörungstheorie anzuhängen oder einer – beispielsweise antiamerikanischen – Interessengruppe das Wort zu reden. Dank derjenigen, die »lieber mit dem Finger auf andere« zeigen und »sich behaglich in ihrer ressentimentgeladenen Weltsicht« einrichten, bleibt es dann den Kabarettisten vorbehalten, die Wahrheit auszusprechen.

Immerhin findet Herr Jaecker es »gut, dass wir heute vielen Dingen mit ein paar Mausklicks selbst auf den Grund gehen können und nicht nur die redaktionell ausgewählten Meldungen der Zeitungen zu Gesicht bekommen«. So etwa hätte Herr Ganser es auch sagen können, wenngleich nicht so locker. Aber er wird noch deutlicher: »Unsere Massenmedien möchte ich keinesfalls in den Himmel loben. Ich habe ja selbst erforscht, wie viele Ressentiments sie transportieren.« (sic!) Natürlich, wird sofort nachgeschoben, gibt es auch »viele Journalisten, die hervorragende Arbeit leisten«. Dem kann man gleichfalls nur zustimmen, vorausgesetzt eben, der »Medienkonsument« ist bereit und fähig, sich ein eigenes Urteil über diese »hervorragende Arbeit«, über die Glaubwürdigkeit und Integrität der Informanten zu bilden und eine gefilterte oder von Vorurteilen und Schlagworten geprägte Darstellung gegebenenfalls als solche zu durchschauen. Mit »ein paar Mausklicks« ist es dabei allerdings nicht getan.

Im Dezember 2014 veröffentlichten über 60 bekannte Persönlichkeiten einen Aufruf an die Bundesregierung, die Bundestagsabgeordneten und die Medien, in dem sie eindringlich vor einem Krieg mit Russland warnten und eine neue Entspannungspolitik für Europa forderten. Initiiert wurde der Aufruf unter anderem vom früheren Kanzlerberater Horst Teltschik (CDU), der die Verhandlungen mit dem sowjetischen Generalsekretär Gorbatschow und dessen Zugeständnisse an die deutsche Wiedervereinigung, einschließlich der Zustimmung zum Beitritt des vereinigten Deutschlands zur Nato, seinerzeit hautnah miterlebt hat. Zu den Unterzeichnern gehören viele ranghohe Politiker quer durch die Parteien, darunter Alt-Bundespräsident Roman Herzog, der ehemalige SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel und Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder sowie die frühere Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer (Grüne). Darin heißt es unter anderem: »Wir appellieren an die Medien, ihrer Pflicht zur vorurteilsfreien Berichterstattung überzeugender nachzukommen als bisher. Leitartikler und Kommentatoren dämonisieren ganze Völker, ohne deren Geschichte ausreichend zu würdigen. Jeder außenpolitisch versierte Journalist wird die Furcht der Russen verstehen, seit NATO-Mitglieder 2008 Georgien und die Ukraine einluden, Mitglieder im Bündnis zu werden. Es geht nicht um Putin. Staatenlenker kommen und gehen. Es geht um Europa. Es geht darum, den Menschen wieder die Angst vor Krieg zu nehmen. Dazu kann eine verantwortungsvolle, auf soliden Recherchen basierende Berichterstattung eine Menge beitragen.«

Diesen verantwortungsvollen Journalismus gibt es, nicht zuletzt in Amerika. Anfang Februar warnte die amerikanische Zeitschrift THE NATION, die älteste Wochenzeitschrift der USA: »The Obama Administration has just recklessly escalated its military confrontation with Russia. The Pentagon’s announcement that it will quadruple US-NATO military forces in countries on or near Russia’s borders pushes the new Cold War toward actual war, possibly even a nuclear one.« Die Besorgnis über die westliche Politik gegenüber Russland und insbesondere die amerikanisch dominierte NATO-Strategie teilen viele Menschen, auch in den USA. Andere wollen sich ihre Ohnmacht nicht eingestehen, weshalb sie die Tatsachen einfach nicht wahrnehmen. Anstatt dass wir unsere Aufmerksamkeit dieser ernsten Wirklichkeit zuwenden, diskutieren wir darüber, ob wir einem Antiamerikanismus Vorschub leisten, wenn wir uns gegen die Bestrebungen nach einer unilateralen »neuen Weltordnung« wenden. In Anbetracht der offenkundigen Probleme und Gefahren scheint mir diese naive Apologie westlicher Hegemonialansprüche völlig deplatziert.

Ich habe mich schließlich gefragt, wem ein solcher Artikel nützt, und habe der Sache dann doch etwas Gutes abgewonnen: meinem Wunsch, die »Erziehungskunst« möge doch weniger als Waldorf-PR-Organ auftreten, sondern mehr als pädagogische Fachzeitschrift Ideen und Material anbieten, kommt dieses Interview durchaus entgegen. Wenn ich in der 12. Klasse die Wurzeln des Kalten Krieges behandle, werde ich den Artikel als Material zur Analyse vorlegen. Ich bin sicher, die Schüler werden die darin vollzogene Spiegelfechterei als Symptom für die gegenwärtige Realitätsblindheit und Gedankenlosigkeit verstehen.

Der Autor ist Geschichtslehrer an der Freien Waldorfschule Heilbronn.

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