Licht und Klang statt Krach und Lärm
Alltag im Kindergarten: über 20 Kinder zwischen drei und sechs Jahren in einem Raum. Die Jungen spielen die Baustelle auf dem Nachbargrundstück nach. Sie haben am Morgen den Betonmischer, den Kran, den Bagger und die laut rufenden Arbeiter erlebt.
Die älteren Mädchen haben ein Rollenspiel inszeniert, in dem viel gesprochen wird; es werden Anordnungen erteilt und Diskussionen finden statt. Außerdem werden die kleineren Kinder, die sich störend einmischen, lautstark vom Spiel ferngehalten. Die Kleineren haben den großen Korb mit Bausteinen umgekippt und versuchen, Türme zu bauen – und jubeln, wenn sie mit lautem Krachen einstürzen. Letztlich haben alle Kinder ein ihrer Entwicklung entsprechendes Spiel gefunden – jedoch: Es ist zu laut! Und um sich in dieser Lärmkulisse zu behaupten, legt jeder noch ein paar Dezibel oben drauf.
• Lärm macht krank •
Lärm ist laut Studien inzwischen der stärkste Belastungsfaktor in Kindertageseinrichtungen. Er hat sowohl physische wie psychische Auswirkungen. Nicht selten trägt er zum Burnout bei. In vielen Waldorf-Einrichtungen gilt als wirksames Gegenmittel neben dem Freispiel die Gliederung des Tagesablaufs mit Malen, Backen, Weben, Frühstücksvorbereitung, Reigen, Frühstück, Vorlesen oder Erzählkreis – doch die erzeugte Ruhe geht einher mit vielem Sitzen und das oft noch auf zu hohen Stühlen für die jüngeren Kinder, die es nicht erlauben, dass die Füße am Boden aufkommen. Ist das wirklich schon die Lösung für die »Bändigung« zu vieler Kinder im Raum?
Diese Frage muss vor dem Hintergrund der Menschenkunde betrachtet werden, in der die spätere Selbstregulation des Erwachsenen zur Voraussetzung hat, dass der Leib im ersten Jahrsiebt gut ergriffen wird und das Geistig-Seelische der Individualität sich beweglich mit ihm verbinden lernt. Während sich Vorschulkinder durch die Exploration in Spiel und Bewegung selbst entwickeln, brauchen die jüngeren Kinder noch begleitende Geräusche. Das Kind stellt sich noch nicht vor, wie der Bagger arbeitet, sondern es ist der Bagger, das ganze Kind ist: »Bruuuum, niiien, zurück, hoch, auskippen …«.
Damit der Leib ergriffen werden kann, sind gute Beziehungsangebote notwendig – je kleiner das Kind, desto mehr. Der Kinderarzt und Analytiker D. Winnicott sagt: »Ich sehe und ich werde gesehen – also bin ich« (Bauer 2015). Alles schulische Lernen hängt davon ab, dass das »Ich« des kleinen Kindes sich mit dem Leib gut vertraut macht und sich seiner leiblichen
Fähigkeiten bedienen lernt. Wenn sich im ersten Jahrsiebt dieses Verhältnis gut reguliert, dann ist es auch keine Überforderung, nach dem Zahnwechsel in der Schule stillzusitzen und die Aufmerksamkeit zu fokussieren. Elternhäusern fällt es heute vielfach schwer, ihren Kindern vor allem die freie Bewegung in Gärten, in der Natur, in Hinterhöfen und auf der Straße zu ermöglichen. In der Frühförderung fallen die vielen Kinder mit Bewegungseinschränkungen auf, die sich im Kindergarten als Verhaltensauffälligkeiten (durchaus originell) zeigen können und anschließend in den großen Waldorfschul-Klassen nicht mehr gehandhabt werden können und in manchen Fällen dann zum Ausschluss aus der Schule führen.
Tonusregulierung, Reflexintegration, Kraftdosierung, unterinformierte und überinformierte Tastsinnauffälligkeiten, ungeübte Bewegungs- und Gleichgewichtserfahrungen sind es, die es Lehrern, Eltern und Schülern später schwermachen. Was also tun, um die institutionelle Erfordernis von über zwanzig Kindern in einem Raum sinnvoll zu nutzen und zu entwickeln? Denn es ist ein gesellschaftspolitischer und konzeptioneller Mangel, dass trotz aller anderslautenden Erkenntnisse immer noch über zwanzig Kinder in altersgemischten Gruppen, also mit völlig unterschiedlichen Entwicklungsbedürfnissen morgens bis zu drei oder vier Stunden in einem Raum ausharren müssen, obwohl es weder den Betreuern noch den Kindern gut tut.
• Einen Klangraum bilden •
Die Lebenskräfte entwickeln sich bis zur Schulreife durch die Elemente von Licht und Klang. Während das Licht die Ausrichtung des Kindes in der Überwindung der Schwerkraft motiviert, geben Ton und Klang Orientierung, bilden Hülle und strukturieren: Die Sprache der Mutter und das Lautieren des Kindes unterstützen den Raum, in dem sich das Geistig-Seelische des Kindes inkarnieren kann. Demzufolge spielt das Kind immer begleitet von Geräuschen und Tönen. Erst in Richtung auf die Schulreife hin kann sich der Ton und das Wort beim Kind entkoppeln vom aktuellen Tun. Je jünger das Kind in einer Einrichtung ist, desto mehr gehört die Geräusch- und Tonbildung unmittelbar zum Spiel dazu. Davon abgesehen sind heute in den Einrichtungen viele Kinder, die das Sprechen zu wenig üben konnten und es daher in der Einrichtung nachholen müssen. Die Entwicklung von Tönen, Lauten, Rufen und Geräuschen ist also im ersten Lebensjahrsiebt für die Gesundheit der Kinder von elementarer Bedeutung – nur ein Zuviel an Lärm in den Einrichtungen erzeugt Stress und macht krank.
Was ist also zu tun, um einen Raum zu entwickeln, der klingt und in dem es nicht lärmt? Dazu gehört der physisch-räumlichen Aspekt, die bautechnische Verbesserung der Schallentwicklung: des Reflexions- und Direktschalls. Dabei ist die Raumakustik auch darauf zu prüfen, ob sie den Spracherwerb fördert. Dann ist zu prüfen, ob der gesamte Innen- und Außenraum für die verschiedenen Bedürfnisse der Kinder richtig genutzt wird. Stehen die großartigen Außenräume der Einrichtungen oder Schulen den Kindern zur Verfügung und zwar in der Regel in mehr als 50 Prozent ihrer Anwesenheitszeit? Werden Angebote wie Wald und Gelände in der nahen Umgebung ausgeschöpft?
Ebenso sind die Abläufe zu hinterfragen. Eine rhythmische Struktur ist förderlich für die Lebenskräfte aller Beteiligten. Wird den unterschiedlichen Altersgruppen ein differenziertes Angebot gemacht?
Können lärmbelastete und viel Einsatz fordernde oder stark reglementierte Abläufe wie im Waschraum und in der Garderobe in kleineren Gruppen gestaltet werden, die Wahrnehmung, Sprache und Begegnung ermöglichen?
Seelische Folgen werden vor allem bei den Pädagogen sichtbar, wenn ihnen ihre Arbeit keine Freude mehr macht und sie sich nicht mehr durch entspannte Abläufe und die Wahrnehmung der Kinder regenerieren können: Der Krankenstand nimmt zu und gar Burnout-Syndrome drohen. Von den Familien und den Kindern wird dann zunehmend Anpassung statt Mitgestaltung eingefordert und höchstens um Verständnis wegen der Überlastung gebeten, statt einen anders gestalteten Aufbruch zu versuchen. Diese Herausforderung hat heute jeder in einer durch zunehmende Digitalisierung gefährdenden modernen Gesellschaft.
»Die Sonne tönt nach alter Weise« könnte eine Anregung sein, wenn wir uns des Gedankens der Weltentwicklung und seiner Stufenfolgen erinnern: Wie das Licht als lebendige Kraft die Welt zum Tönen bringt und wir dem Klang die der Welt zugrunde liegenden Gesetze und die Richtung der Entwicklung ablauschen können.
Zur Autorin: Claudia Grah-Wittich ist Dipl. Sozialarbeiterin und arbeitet in der Frühforderung und Elternberatung am »hof« in Niederursel/Frankfurt, sowie als Fachreferentin für frühe Kindheit, Krippenberatung, Dozentin an verschiedenen Ausbildungsstätten. Mitverantwortlich für die Weiterbildung: »Eltern beraten – Kinder neu sehen lernen« (www.der-hof.de). Neubeginn: November 2018. Herausgeberin des Buches: Wie siehst du mich? Die Bedeutung der individuellen Sichtweisen von Eltern auf ihr Kind, Stuttgart 2017
Literatur: J. Bauer: Warum ich fühle, was du fühlst, Hamburg 2005
Lärmprävention in Kindertageseinrichtungen. Hrsg. von den gesetzlichen Unfallversicherungen der öffentlichen Hand in NRW und der BGW
R. Steiner: Die Geheimwissenschaft im Umriß, Dornach 1962
E. Schiffer: Wie Gesundheit entsteht, Weinheim 2001
P. Lang: Mama, im Kindergarten ist es immer so laut! Erziehungskunst 7/8 2008
Mehr desgleichen finden Sie in der Erziehungskunst »Frühe Kindheit«
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