Literatur statt Lektüre. Wie sich an Originaltexten die Phantasie der Schüler entzündet

Gilberte Dietzel

Was alles im Text steckt

Ein Text sollte über Inhalte und Bilder verfügen, die die Phantasie des Lesenden beflügeln, ihn seelisch berühren, sein Interesse für das Dargestellte, die Sprache, die fremde Epoche und Kultur wecken. Die Schüler sollen lernen, Texte nicht nur nach ihrem Inhalt, sondern auch nach den impliziten und expliziten Intentionen des Autors zu untersuchen. Da sich die Welt im geschriebenen Text durch das Wort offenbart, bezieht sich der Weg, der mit den Oberstufenschülern gegangen wird, auf die Notwendigkeit, die Welt des Textes fühlend und denkend in sich aufleben zu lassen.

Will der Lehrer erreichen, dass der Schüler die Vielschichtigkeit des Textes erfasst, muss er einer Begegnung zwischen Schüler und Text Raum geben. Diese Begegnung kann jedoch nur stattfinden, wenn es dem Lehrer gelingt, Aufgaben zu konzipieren, die auf jeden Text neu zugeschnitten, sorgfältig durchdacht und phantasieanregend sind.

Aufgaben statt »Übungen«

Die Aufgabe soll sinn- und lustvoll sein und dem Alter und Entwicklungsstand des Schülers entsprechen. Sie soll für den Schüler eine inhaltliche und sprachliche Herausforderung sein, aber eine, die er auch zu bewältigen vermag. Sie soll im Schüler Fragen wecken, ihn dazu bringen, zu probieren, zu verwerfen und wieder zu probieren. Sie soll in der Realität verankert sein und unterschiedliche Lösungswege bieten. Sie soll möglichst komplex sein, so dass sie nicht so leicht durchschaut und mechanisch gelöst werden kann. Vor allem soll sie in ein neues Können münden.

Anders als gewöhnliche Übungen soll diese Art von Aufgabe im Schüler den Wunsch wecken, sich zu äußern. Vom Lehrer wird kein Lösungsweg vorgegeben, der Schüler wird zum selbstständigen Akteur seines Lernens. Dies bedingt, dass sich der Lehrer während des Unterrichtsstunde vom Geschehen zurückzieht und die Schüler agieren lässt.

Das Schweigen des Textes

Vom Lehrer verlangen diese Aufgaben im Vorfeld eine gründliche Arbeit. Er muss den Text sehr gut analysiert haben, damit er den Lernerwerb jeder Aufgabe festlegen kann.

Lernerwerb kann sein: Umgang mit einem bestimmten Grammatikkapitel (zum Beispiel: Bedingungssätze), Charakterisierung von Romanfiguren, Stilmittel anwenden oder das Üben eines bestimmten Textformats (Brief, Tagebucheintrag, Zeitungsartikel), Argumente für eine Debatte sammeln, Gesprächsführung, Tele­fonat – Formate also, die oft dem Alltagsleben entnommen sind. Anschließend braucht der Lehrer vor allem Phantasie beim Konzipieren der Aufgaben.

Phantasie heißt, die Realität aus einem ungewohnten Blickwinkel zu betrachten, durch Unerwartetes, Ungebräuchliches subversiv zu verändern. Phantasie wirkt befreiend.

Hier wird der Text nach dem Ungesagten durchsucht, nach den erzählerischen Auslassungen, nach dem, was der Autor unerwähnt lässt. Stark verdichtete Texte enthalten Momente des Schweigens. Denn der Schriftsteller trifft immer eine Wahl, niemals kann er alles schreiben, was geschehen sein könnte. Eine Gebrauchsanweisung, eine Montageanleitung, ein Grammatikbuch dürfen keine Details auslassen, sonst werden sie ungenau, dadurch unverständlich. Ein Roman, der jede Einzelheit wiedergibt, jedes Detail nennt, langweilt dagegen schnell, weil er der Vorstellungskraft des Lesers keinen Raum bietet.

Bei der Aufgabenstellung geht es nicht darum, den im Text expliziten Inhalt wiederzugeben (Beispiel: »Fassen Sie den Abschnitt zusammen«, oder »Beschreiben Sie die Person X«), sondern sich diese Leerräume, das Verschwiegene zunutze zu machen. Dies regt wiederum die Phantasie der Schüler an und weckt in ihnen den Wunsch, sich zu äußern.

Unterricht heißt Begegnung

Zu Beginn der Arbeit wird der Text mit der Klasse zusammen gelesen. Die Aufmerksamkeit der Schüler richtet sich dabei ausschließlich auf das Verstehen des Inhalts. Unbekannte Wörter, Redewendungen und Grammatikstrukturen werden notfalls kurz erklärt, sie stehen aber nicht im Vordergrund. Der Lehrer wirkt als Verständnishelfer, er benutzt den Text nicht, um neue Vokabeln oder grammatische Strukturen einzuführen.

Nehmen wir als Beispiel Guy de Maupassants Kurzgeschichte »Boule de suif«. In knappen Sätzen »La vie semblait arrêtée; les boutiques étaient closes, la rue muette. Quelquefois un habitant, intimidé par ce silence, filait rapidement le long des murs. L'angoisse de l'attente faisait désirer la venue de l'ennemi«, wird gleich zu Beginn der Kurzgeschichte das angstvolle Warten der Bewohner der Stadt Rouen auf die Ankunft der preußischen Soldaten im Jahr 1870 dargestellt. Der Autor skizziert mit raschen Pinselstrichen die Atmosphäre der Angst in der Stadt. – Eine solche Textstelle kann Ausgangspunkt für verschiedene Aufgaben sein: Was bleibt unerwähnt? Das Alltagsleben der Menschen in der Stadt, wie zum Beispiel die Gespräche in einem Einkaufsladen zwischen Kaufmann und Angestellten über den Grund, warum der Laden vorerst geschlossen bleibt. Oder die Überlegungen einer Hausfrau, deren Vorräte zur Neige gehen, wie sie das Hausmädchen oder ihren Mann zum Gang zum Kaufmann überreden kann. Oder der Tagebucheintrag einer jungen Frau, deren Verlobter in der französischen Armee dient. Es ließen sich noch viele Beispiele finden.

Welche Lernaufgaben könnten zu diesen Inhalten passen? Das Gespräch zwischen Kaufmann und Angestellten könnte mit der Aufforderung verbunden sein, kausale und finale Konjunktionen zu benutzen. Bei den Überlegungen der Hausfrau sollten Bedingungssätze oder den Subjonctif auslösende Redewendungen verwendet werden, der Tagebucheintrag müsste formal stimmig sein. Sollen die Schüler auf das Analysieren von Texten vorbereitet werden, müssen sie sich nach dem geschichtlichen Hintergrund und den zeitlichen Gegebenheiten richten.

Wichtig ist, dass der Lehrer den Arbeitsauftrag klar und genau formuliert. Die Schüler arbeiten an der Aufgabe während der Unterrichtsstunde allein oder zu mehreren; ihnen stehen neben dem Lehrer zweisprachige Wörterbücher und Zeitdokumente zur Verfügung. Der Lehrer bestimmt nicht, sondern leistet auf Wunsch Hilfe und hält Ressourcen bereit.

Wenn nach der klar vereinbarten Zeit alle die Aufgabe gelöst haben, kommt der Moment des Austauschs. Was geschrieben wurde, kann zum Lesen bereitgelegt werden, so dass jeder die entstandenen Texte lesen kann. Was mündlich vorbereitet wurde, wird vor der Klasse vorgetragen.

Es könnte der Eindruck entstehen, dass solche Aufgaben Literatur zum Gebrauchsobjekt trivialisieren. Die Praxis zeigt jedoch, dass die Schüler sich eng mit dem Text verbinden und mit Personen und Situationen zu identifizieren beginnen. An­-schließende Textanalyseübungen werden dadurch leichter.

Die anfängliche Verunsicherung der Schüler, wenn die Aufgabe genannt wird, ruft ein Bedürfnis nach Vokabeln und Grammatik hervor. Es gilt, dieses Manko durch eigenes Tun auszugleichen. Das neue Wissen, das Verbindungen zum bereits vorhandenen Können aufweist, ist kohärent und in einer neuen Situation nutzbar. Es geht nicht um die Anhäufung von Kenntnissen, sondern um Erkenntnisse, die Ausgang für eigenes Erkunden von Texten sind und zum Werkzeug für die Kommunikation, Analyse und das Wirken in der Welt werden.

Das Schweigen des Lehrers ist ein Geschenk, Geschenk von Zeit, Zeit zum Verstehen, Zeit zum Nachdenken, Zeit zum Lernen. Das Schweigen ist genauso stark wie das Wort, aber anders. Es schafft Freiheit, während das Wort einengt, es ist ein Ausatmen, das der Phantasie und dem Denken des Schülers Flügel verleiht.

Zur Autorin:

Gilberte Dietzel ist Französischlehrerin an der Freien Waldorfschule Frankfurt am Main. Sie ist Landesfachberaterin für Französisch bei der Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) in Hessen, als Dozentin in der Aus-, Fort- und Weiterbildung tätig und Mitglied der Fachkommission Landesabitur in Hessen.

Literatur:

Gianni Rodari: Grammaire de l’imagination, Voisins-le-Bretonneux 1997; Urs Ruf, Stefan Keller, Felix Winter (Hrsg.): Besser lernen im Dialog, Dialogisches Lernen in der Unterrichtspraxis, Seelze 2008; Philippe Rousseaux: Fonction du silence en pédagogie: une dimension performative, Recherches & éducations, n°5 |2e trimestre 2003; Gérard de Vecchi, Nicole Carmona-Magnaldi: Faire vivre de véritables situations-problèmes, Paris 2002