Lockdown Schule – oder was lernen wir daraus?

Ute Hallaschka

Es dürfte jetzt klar werden, dass wir am Beispiel Corona die Kulmination der letzten hundert Jahre gesellschaftlicher Fehlentwicklung besichtigen. Von Weltkrieg zu Weltkrieg bis zum aktuellen Erdkrieg ums Klima – immer wieder kein anderer nachfolgender Gedanke, wenn die Katastrophe erschien, als Wachstum. Dieser Wachstumsgedanke ist durchaus subtil zu verstehen. So kümmert sich die Industrie und Politik zur Zeit ganz unbekümmert um den Batterien- und Akkuleistungs-Wachstum für E-Autos – weil das bekanntlich die Lösung ist für den Schaden von gestern. Dass damit ein neuer entsteht – von Stromfressern über Giftmüll bis zur wirtschaftlichen Ausbeutung – scheint nicht relevant – Hauptsache der kurzfristige Gewinn maximiert sich.

So funktioniert definitiv kein Organismus in seinem Lebenskraftgefüge.

Nun haben wir inzwischen erfahren: Erde ist einer und Menschheit auch. Da drinnen lebt Virus. Es wird nicht einfach verschwunden sein im Herbst und falls doch, steht das nächste vor der Tür – buchstäblich bei uns zu Gast. Die Frage: Wie schütze ich mich persönlich vor Schaden? ist nur bedingt hilfreich, ungefähr so als hätte ein Finger Bewusstsein und würde sich um seine Salutogenese kümmern, während der Menschenleib, zu dem er gehört, vom Schlag getroffen wird. Wovon man jetzt reden könnte – wenn alles in der Welt derselbe Krankheitsfall des Menschlichen ist –, das kommt allmählich im Bewusstsein an. Individuelle Einsicht, die ausdrücklich zur gesellschaftlichen Veränderung führt.

Die Vergangenheitsfeiern der verschiedenen anthroposophischen Jubiläen sind zum größten Teil ausgefallen. Aber sie könnten doch Zukunftsfeiern werden. Auch das klaffte in letzter Zeit wie eine Schere, um nicht zu sagen: ein Wundrand, immer weiter auseinander; verstärkte Wirkung von Anthroposophie als Einrichtung in der Welt, aber immer weniger die Rede von ihr selbst.

Dabei ist das, was sie zu sagen hat, doch absolut zeitgenössisch. Je stärker sich in der Welt zeigt: da sind konkrete Kräfte am Werk, die wir nicht unmittelbar sinnlich wahrnehmen, die sich aber physisch auswirken, bis in unsere Körper, umso offener scheint die Atmosphäre für die Realität des Übersinnlichen. Das Tiefenverständnis, das anthroposophische Begriffe ermöglichen, zielt auf den Willen des Denkenden. Wer sich selbst einen Begriff gemacht hat – und anders geht denken ja nicht wirklich – der kann in aller Freiheit die logischen Konsequenzen seines Denkens erfahren, bzw. sich darin korrigieren.

Also denken wir doch. Als Grundgesetz der geistigen Welt gilt: Durchlässigkeit! Verschiedene Wesen können am selben Ort Raum einnehmen, indem sie einander durchdringen. Nicht mit stofflichen Körpern, aber mit Leiblichkeit ausgestattet. Wie leicht ist jetzt einzusehen, was Leiblichkeit von materiellem Körper unterscheidet. Virus zeigt das wie eine weltweite Schau: als biologische Struktur, ohne eigenen Körper und Stoffwechsel, aber mit einem Dasein, das in die Materie eingreift. Virus ist Gestaltwandler und wirkt damit in der Zeit, prozessual wie es ein Kunstwerk tut. Es sei an Rilkes berühmte Formulierung erinnert: »Denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht / Du musst dein Leben ändern.«

Man könnte sagen: Alles was wir tun und sind, wird von Virus eingesehen, in seiner Anpassung an unsere Lebens­umstände. Höchste Zeit, dass wir zurückschauen! Ein Dialog, ein Blickwechsel mit Virus auf Augenhöhe? Ist nicht ohne weiteres möglich, denn das lässt sich leicht feststellen. Begegnet mir etwas Unsichtbares, von dem ich das Gefühl habe, dass ich darin in meiner Persönlichkeit geschützt und geborgen bin – sagen wir: die Liebe eines Menschen – dann fühle ich mich durchaus im Übersinnlichen angesprochen. Ist es dagegen eine unsichtbare Kraft, die mich attackiert in der Erscheinung der feindlichen Übernahme meiner Lebenskräfte, dann kann man von der Empfindung des Untersinnlichen reden. Der Boden wankt, wie unter den Füßen weggezogen alles, was Basis von gestern war. Doch wir leben nicht allein im Augenblick und das ist auch gut so. Alles was ein Mensch tut, denkt, fühlt, ist immer begleitet von Zukunft als Entwurf. Selbst unsere Erinnerungen sind so. Wir schaffen sie als Vergangenheit, um sie in Zukunft zu haben. In diesem Sinne ist Virus Hilfe zur Zukunftsbildung. Dahin können wir schauen. Was Virus als unsere Vergangenheit abbildet und ausdrückt, kann zur Erinnerung an die Zukunft werden.

Also statt der Jubiläumsfeiern die überraschende Sachlage: Waldorfpädagogik – wie denkst du dir das in Zukunft? Das ist die Frage an jeden, der darin tätig sein will. Denn es wäre ja sonderbar, wenn die Welt sich ändern sollte und ausgerechnet anthroposophische Impulse einfach so fortgeführt würden. Schule der Zukunft kann sich nicht mit Korrekturmaßnahmen oder Hygienekonzepten begnügen. Pädagogik, die lebt aus Anthroposophie, wird sich besinnen müssen auf Anthroposophie, um Leben zu haben in Zukunft. Das klingt zu allgemein? Es ist die Radikalität des ethischen Individualismus. Was heißt Anthroposophie für dich und was heißt es für mich – und wie können wir beide und alle anderen, die daran beteiligt sind, konkret aus diesem Selbst-Verständnis Schule schöpfen? Es wird nicht zu vermeiden sein, sich persönlich neu um dieses Quellenwunder zu bemühen.

Irgendwie lief das ja ganz gut in der Vergangenheit von Nachfrage und Angebot, mit der Verwaltung der Waldorfpädagogik – diese Zeit ist vorüber. Man kann sich nicht länger im Kollektiv der Gruppe verorten und gegenseitig totschweigen mit allem, was zu einem gehört. Was zu einem jeden gehört in der aktuellen Weltlage, das ist die persönliche neue Beziehungsanbahnung zum Kosmos. Dies ist Anthroposophie auf den kleinsten gemeinsamen Nenner gebracht – als zwischenmenschliches Teilungs- und Mitteilungsgeschehen. Dazu ist Selbstverwaltung im Wortsinn wahrhaftig notwendig, bis in die letzte Zellstruktur von Ich und Du und Welt. Ob wir wollen oder nicht, wir werden unser gesellschaftliches Leben – allem voran Bildung und Schule – neu erfinden müssen, aus dem Geist der Zukunft.

Wer sich dazu mutig öffentlich äußert im SPIEGEL-Interview (Nr. 26, 20.6.2020), ist der Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, Thomas Fischbach: »Meine Kollegen und ich haben mit Engelszungen auf Eltern eingeredet, dass es nur ein reales Leben gibt und kein virtuelles.« Oder der Sachbuchautor Herbert Renz- Polster, ebenfalls Kinder- und Jugendarzt, eine Woche zuvor (Spiegel Nr. 25): »Wenn die Krise eines gezeigt hat, dann doch, welche bis dahin undenkbaren Zustände plötzlich hingenommen werden. Die Schulpflicht galt als heilig in Deutschland. Und dann fällt die Schule auf einmal monatelang aus, und die Eltern sollen zu Hause die Kinder unterrichten, vor Kurzem war das noch illegal. Wenn das geht, gehen auch ganz andere Dinge. Wir können jetzt die Schule neu erfinden, wenn die Ministerien mehr Freiheit einräumen, eigene Wege auszuprobieren. Wenn wir aus der Krise etwas Positives mitnehmen wollen, dann sollten wir die Chance nutzen, Strukturen aufzubrechen. Eine zukunftsfähige Schule ist eben nicht die alte Schule plus Hygienekonzept.«

Ob wir noch irgendwie ehrlich ernst machen wollen mit der Haltung der Freiheit, das wird die große Frage der Zukunft sein. In allen Systemen. »Leben in der Liebe zum Handeln und Lebenlassen im Verständnisse des fremden Wollens.« Ganz konkret jetzt, auf sachlichem Feld. Wenn wir das aufbringen in innerer Kraftanstrengung, dann besteht die Chance, dass Virus und Co als Zeichensetzung unserer lebensfeindlichen Praxis überflüssig werden und sich wieder rückverwandeln, bzw. zurückziehen. Anders wohl kaum.

Das kosmische Zeugnis ist in Arbeit. Ob die Menschheit ihr nächstes Etappenziel erreicht – die Überwindung des Schmarotzertums – das wird sich zeigen. Doch jeder kann sich fragen, wie dann sein eigener Zeugnisspruch wohl lauten wird.