Die Kunst, Kinder zu betrachten

Christof Wiechert

Bedingungen für die Kinderbesprechung

Ein wesentliches Merkmal dieser Kunst ist, dass sie sich in einer Gemeinschaft vollzieht. Ein Kollege hat eine Frage zu einem Schüler. Der Schüler reagiert nicht so, wie erwartet oder leistet nicht, was der Lehrer von ihm erhofft. Der Lehrer will den Schüler aber verstehen, denn er spürt, ohne dieses Verständnis wird er den Schüler nicht erreichen und wird das Lernen schwierig. Er weiß: Erziehung setzt Beziehung voraus. Also wendet er sich an seine Kollegen und bittet um Beratung. Die pädagogische Konferenz hat eigentlich nichts Wichtigeres zu tun, als diese gegenseitige Beratung in pädagogischen Angelegenheiten zu ermöglichen. Was ist nötig, damit eine solche Beratung gelingt?

1. Es muss eine Gemeinschaft vorhanden sein, ein Kreis ohne Löcher. Wer sich für diese Arbeit nicht interessiert, bleibt ihr besser fern. Wer dem Schüler keine Sympathie entgegenbringen kann, bleibe draußen. Denn die Beratung setzt das aktive Interesse aller Beteiligten voraus, sie ist die hohe Schule des Interesses. Da können Eltern genau so gut teilnehmen wie Kollegen, die den Schüler nicht kennen. Gerade durch ihr neutrales Interesse können sie wichtige Fragen aufwerfen. Es ist hilfreich, wenn der Kollege, der den Schüler darstellt, nicht auch die Gesprächsführung innehat.

2. Eine Kinder- oder Schülerbetrachtung braucht einen Atem. Wenn man es ein wenig geübt hat, braucht man sicher eine Stunde. Viel hängt davon ab, wie der Kreis zuhört. Die wahre Aktivität liegt nicht in der Darstellung des Kollegen, sondern in der Qualität des Zuhörens. Wo vernimmt man das, was Licht bringt in das Dunkel der Erscheinung? Wann fangen die geschilderten Situationen an zu sprechen, erhellend für das Verständnis des Kindes zu werden?

3. Eine wichtige Bedingung ist ein Zustand sozialen Friedens. Nun sind das alles erhabene Worte, die man eigentlich so nicht mehr gebraucht oder hören mag. Sie sind aber leider wahr. Ein Kollegium, das sich an Strukturdebatten oder Ähnlichem zerrieben hat, wird sich zu Kinderbesprechungen nicht leicht bereit finden – man braucht dazu eine gewisse Stimmung. Eine Konferenz, die nur aus Berichten und Mitteilungen besteht, wird eine solche Stimmung nicht aufbringen können.

4. Man sollte danach streben, am Schluss eine oder mehrere Hilfestellungen zu vereinbaren. Wenn man nach ungefähr acht Wochen kurz auf die Kinderbetrachtung zurückblickt, und die Frage stellt, haben wir getan, was verabredet war und hat es geholfen? dann wird die Kinderbesprechung zu einem der stärksten Instrumente zur Sicherung wirklicher Schulqualität. Denn das Kollegium hat nicht nur dem Schüler geholfen, sondern selbst unendlich viel gelernt. Viele klagen darüber, die »Allgemeine Menschenkunde« sei doch bloß Theorie. In der Kinder- oder Schülerbetrachtung wird die Menschenkunde praktisch. Wer an ihr teilnimmt, kann sie als Glückserlebnis empfinden.

5. Grundsätzlich gibt es für die Kinderbetrachtung kein festes Modell, kein Protokoll. Bei dieser Arbeit setzt das Kind selber, wenn es denn erkannt wird, die Akzente. Dennoch kann man drei Stufen unterscheiden. Es gibt sie schon seit Hippokrates: die Anamnese, die Diagnose und die Therapie. Wir können stattdessen auch von Schilderung, von Verstehen und von Hilfe sprechen, die durch Intuition gefunden wird.

Reden und Hören – inklusiv

Der Klassenlehrer oder -betreuer (Mentor) schildert den Schüler so wie er ihn erfährt, wie er sich darlebt. Er versucht seine Gestalt, sein Benehmen zu beschreiben, zeigt seine Arbeiten: kurz, man verschafft sich ein Bild. Dieses Bild beinhaltet auch die Zeitgestalt des Schülers. Das Bild wird von anderen Kollegen ergänzt. Der Schularzt trägt möglicherweise aus der Vorgeschichte des Schülers Relevantes bei. Derjenige, der den Schüler schildert, übt sich in der Kunst der inklusiven Rede, die Übrigen in der Kunst des inklusiven Zuhörens: sie sollten nicht nur mit den Ohren, sondern mit dem Herzen hören. Der Darstellende liefert Bausteine für die Wahrheitsfindung, er soll sich nicht einen lang angestauten Frust von der Seele reden. Naturgemäß dauert dieser Teil oft zu lang. Jeder hat ja etwas zu sagen, auch wenn man dasselbe sagt, wie der Vorredner. Es ist die einzige Gelegenheit, wo man aus Erfahrung sprechen kann, aber man muss nicht alles wissen.

Ein Gefühl für Evidenz stellt sich ein 

Nun wird es auffällig still. Wer kann denn etwas sagen? Wer kann sachgemäß interpretieren? Hier wird sich zeigen, wie weit ein Kollegium sich die Menschenkunde zu eigen gemacht hat. Denn die Interpretation, das Verständnis kommt aus der Menschenkunde. Wer bloß etwas Angelesenes zum Besten gibt, wirkt anders, als wer die Menschenkunde verinnerlicht hat. Hier braucht man ein kollegiales Empfinden, das imstande ist, das Können des anderen Kollegen zu würdigen. Hinhören und Zurückhaltung sind gefordert. Ein feines Gefühl für Evidenz wird sich einstellen: Was ist stimmig, was nicht? Rudolf Steiner hat viele Hinweise für eine solche Interpretation gegeben, ein Kollegium sollte sich diese in den Konferenzen erarbeiten. Meiner Auffassung nach liegt in Steiners Menschenkunde alles, was man braucht, um auch die heutigen Phänomene zu verstehen. Hier ist auch der richtige Moment, um sich mit Empathie zu fragen, wie würde ich mich fühlen, wenn ich so gestrickt wäre? Wie fühlt sich der Drang nach ungestümer Bewegung von innen her an, wie das Stottern, wie die Legasthenie? Solche Fragen können über Unzulänglichkeiten in der Erkenntnis der Menschenkunde hinweg helfen, sollten aber nicht zum Selbstzweck werden. Wer gut zugehört hat, wird bemerken, dass das Kind, der Schüler sich offenbart.

Entscheidend ist der Wille zu helfen

Und wie helfen wir jetzt? Zuerst suchen wir die Hilfe bei den Lehrern und der Pädagogik. Danach entscheidet sich, ob spezialisierte Hilfe nötig ist. Welcher Lehrstoff hilft bei welchem Problem? Was bewirkt Rechnen? Was Zeichnen oder gar Formenzeichnen? Was bewirkt eine Fremdsprache am Kind? Was eine stärkere intellektuelle Förderung oder eine mehr bildliche Ansprache des Kindes? Was eine musikalische oder plastische Betätigung? Kann dem Kind geholfen werden mit Aufgaben der Erinnerungsbildung oder durch Sprachübungen? Der Möglichkeiten sind viele. Erziehen, Unterrichten ist ein leises Heilen (Rudolf Steiner). Hier hilft der Wille zu helfen, weniger der richtige Gesichtspunkt. Im Wesentlichen sind wir ja alle hilflos und können uns nur um Hilfsbereitschaft bemühen. Die Besprechung endet damit, dass festgehalten wird, wer was für den Schüler tut. Nach acht oder zehn Wochen blickt man zurück: Haben wir getan, was verabredet war und hat es gewirkt?

Elternbeteiligung – eine Taktfrage

Einem elementaren ethischen Empfinden folgend wird man so weit wie möglich immer die Eltern um Zustimmung für eine solche Besprechung bitten und man wird sagen, warum man meint, sie sei angebracht. Prinzipiell ist nichts dagegen einzuwenden, wenn Eltern (wenn sie das wünschen) an der Besprechung teilnehmen. Ein Lehrerkollegium sollte sich aber fragen, ob das Verhältnis zwischen Schule und Eltern deren Teilnahme zulässt. Das ist eine Takt- und keine Grundsatzfrage. Und Takt ist ja bekanntlich gesunder Menschenverstand mit Gefühl.

Die Kinder- oder Schülerbetrachtung ist ein Qualitätsinstrument das, vernünftig angewandt, seinesgleichen sucht.

Zum Autor: Christof Wiechert ist ehemaliger Leiter der pädagogischen Sektion am Goetheanum. Zuletzt ist sein Buch Lust aufs Lehrersein im Verlag am Goetheanum erschienen.