Entwickeln im Dialog

Daniela Heidtmann, Reinhold Schmitt

Messen, Bewerten, Vergleichen – im öffentlichen Diskurs setzt man zur Erfassung der kindlichen Entwicklung meist auf quantitative Erhebungsverfahren. Das Kind wird auf der Grundlage zuvor festgelegter Fragen beobachtet, der so erhobene Entwicklungsstand anschließend festgehalten: entweder in Form eines frei formulierten Antwortsatzes oder als Kreuz auf dem Multiple-Choice-Fragebogen. Viele Waldorfpädagogen zögern, ein Kind auf einer vorgefertigten Grundlage zu beurteilen. Was aber hat die Waldorfpädagogik an Alternativen zu bieten, wenn es um frühkindliche Entwicklungsdiagnostik und Förderung geht? Aus dieser Frage ist ein Forschungsprojekt entstanden, das im Auftrag des Bundes der Freien Waldorfschulen und der Vereinigung der Waldorfkindergärten Anfang 2010 von uns durchgeführt wurde und dessen Ergebnisse nun vorliegen. Ziel des Projektes war es zu erforschen, wie die Waldorfpädagogik mit der Individualdiagnostik umgeht. Nicht die Theorie, das Ideal oder die Anleitungen aus Lehrbüchern standen im wissenschaftlichen Fokus, sondern das wirkliche Vorgehen in einer Waldorfeinrichtung. 

Wie erfassen Erzieherinnen den Entwicklungsstand eines Kindes? 

Die Leitfrage der Untersuchung war: Was machen Waldorferzieherinnen genau, wenn sie versuchen, den Entwicklungsstand eines Kindes zu erfassen? Waldorfpädagogen kennen die Antwort: Sie beobachten das Kind systematisch über einen längeren Zeitraum, machen sich ein Bild und tauschen sich dann mündlich im Kreis von Kollegen intensiv über dieses Kind aus. Kinderbeobachtung, Kinderbetrachtung, Kinderbesprechung, Kinderkonferenz sind die Bezeichnungen, die in der Waldorfpädagogik für diese Form der Entwicklungsdiagnostik verwendet werden. In den verschiedenen Benennungen mag sich eine grundsätzliche Erfahrung spiegeln: Kinderbetrachtungen sind unterschiedlich. Sie verlaufen nie gleich. Sie sind so verschieden wie die Kinder, um die es geht, und auch so verschieden wie die Erzieherinnen, die daran teilhaben. Aber sie haben dennoch einen gemeinsamen Kern. Dieser Kern besteht aus den Anforderungen, die die Anwesenden bearbeiten müssen, wenn sie sich dem Kind im Gespräch annähern. Sie müssen zum Beispiel das Kind genauestens darstellen, Fragen und Ergänzungen zu der Darstellung formulieren und versuchen, den Kern des kindlichen Wesens zu erfassen. Diese Anforderungen sind immer die gleichen, unabhängig, ob ein Kindergartenkind oder ein Schüler betrachtet wird. Sie müssen von den Erzieherinnen oder Lehrern bearbeitet werden, wenn sie sich im Entwicklungsdialog um den Entwicklungsstand eines Kindes kümmern.

Wie genau dies jedoch sprachlich geschieht, ist den praktisch Handelnden zumeist nicht bewusst. Und genau hier setzt die Studie an: Mit einer soziologischen Forschungsmethode identifiziert sie diese Anforderungen und die sprachlichinteraktiven Techniken, mit denen sie bearbeitet werden.

Beschreiben, ohne zu werten – sprachlichinteraktive Techniken

Viele der in der Studie identifizierten sprachlichinteraktiven Techniken reagieren auf den Anspruch, das Kind ohne Wertung zu präsentierten und es nicht vorab auf eine Kategorie, wie zum Beispiel »Träumer«, »Prinzessin« oder ähnliches festzulegen. Wie aber geht das? Wie realisiert die Erzieherin diese Grundhaltung dem Kinde gegenüber? Beispielsweise, indem sie das Kind, anhand unterschiedlicher Konzepte beschreibt: »… ein feiner Mensch, der da daher kommt, ganz innig, ganz innig und liebevoll und rücksichtsvoll.«

Die Erzieherin bezeichnet das Kind als feinen Menschen. Aber bei dieser Beschreibung bleibt sie nicht stehen und legt das Kind darauf fest. Sie verdeutlicht vielmehr, was den »feinen Menschen« ausmacht, indem sie verschiedene Beschreibungen variiert (er ist innig, innig, liebevoll, rücksichtsvoll). Das Innige wird wiederholt, da es für die Charakterisierung des Kindes besonders wichtig ist. Während das Innige auch in Situationen aufscheinen kann, in denen das Kind allein und selbstvergessen spielt, verweisen die Konzepte »liebevoll« und »rücksichtsvoll« auf den Umgang des Kindes mit Anderen. Dieses kurze Beispiel mit einer Sprechdauer von nur wenigen Sekunden verdeutlicht, wie die Anforderung, das Kind ohne Bewertungen und Kategorien zu beschreiben, sprachlich mit Hilfe der Technik »Konzeptvariation« bewältigt wird. Viele Konzepte werden zur Beschreibung des Kindes aneinandergereiht. Begriffe, die sich im Kern ähneln, aber gleichzeitig auf unterschiedliche Weltausschnitte verweisen. Wie erreicht es die darstellende Erzieherin, den Anwesenden ein umfassendes Bild des Kindes zu geben, das seiner Einzigartigkeit gerecht wird? Beispielsweise, indem sie die Zuhörer in unterschiedliche Situationen des Kindergartenalltags entführt, in denen das Kind dargestellt wird (Morgenkreis, Freispiel, Essenszubereitung, Draußenspiel …):

»… konnte ich draußen schon beobachten, dass sie dann ganz gezielt zum Beispiel Blüten auf einen Sandkuchen setzen kann, ohne dass der kaputt geht oder auch die Förmchen gut umdrehen kann und das dann heil bleibt, bei den Schafen die Köttel auf die Schaufel schiebt und das wirklich auch da ankommt, wo es hin soll, oder wenn sie Schnecken sammelt, die auch liebevoll in die Förmchen setzen kann.«

Obwohl das Zitat nur ein winziger Ausschnitt dessen ist, was alles zum Draußenspiel gesagt wird, enthält es eine Fülle an Informationen: das Kind beim Sandkuchenverzieren, beim Förmchen umdrehen, beim Ausmisten des Schafstalles, beim Schneckensammeln. Zudem wird die motorische Entwicklung des Kindes charakterisiert: gezielt setzen, gut umdrehen, das heil bleibt, da ankommt, wo es hin soll, liebevoll setzen. Außerdem wird deutlich, dass das Kind eher im Alleinspiel als im Spiel mit anderen Kindern beschrieben wird. Es ist diese Detailliertheit und Präzision der Beschreibung unterschiedlichster Situationen und Verhaltensweisen, die für den Entwicklungsdialog insgesamt charakteristisch ist. 

Der Dialog als Grundlage für Entwicklung

Damit diese Annäherung gelingen kann, ist eine Voraussetzung unerlässlich: Es muss ein Dialog zwischen den Erzieherinnen stattfinden. Denn schon dann, wenn die Erzieherin, die das Kind im Vorfeld intensiv beobachtet und wahrgenommen hat, für die Anderen ihren Eindruck schildert, erlebt sie beim Formulieren, ob ihre Beobachtungen wirklich dem Kind gerecht werden. Sie kann sich selbst reden hören und nimmt wahr, wie ihre Kolleginnen auf das, was sie sagt, reagieren. Im Aussprechen liegt für die Präsentierende ein wesentliches Moment der Erkenntnis. Dieses Miteinander-im-Gespräch-Sein bildet einen schützenden Rahmen für das Kind. Durch Nachfragen oder Ergänzungen wird verhindert, dass das Kind einzig auf eine Sichtweise einer Erzieherin festgelegt wird. Alle sind bemüht, sich vollständig auf das Kind einzulassen und ihre Sichtweisen zusammenzubringen. Gemeinsam suchen sie nach Hilfestellungen, die das Kind im Kindergarten in seiner weiteren Entwicklung unterstützen können. Da dem Dialog ein so zentraler Stellenwert zukommt, haben die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Vorschlag eines neuen Namens geführt: Wir sprechen vom Waldorfpädagogischen Entwicklungsdialog. Der Dialog ist dafür verantwortlich, dass mannigfaltige Entwicklungen in Gang kommen (daher: Entwicklungsdialog). Die Studie führt ein ganzes Spektrum von Entwicklungen an, von denen hier nur einige genannt werden:

  • Es geht um den Entwicklungsstand eines Kindes. Dieser wird genauestens dargestellt.
  • Im Dialog entwickelt sich das Bild des Kindes: Es wird immer komplexer und differenzierter.
  • Die Erzieherinnen entwickeln konkrete Hilfen für das Kind.
  • Die Beziehungen der Erzieherinnen zum Kind entwickeln sich.
  • Die Beziehungen der Erzieherinnen untereinander entwickeln sich, weil sie sich intensiv austauschen.
  • Die Kompetenz, einen Entwicklungsdialog durchzuführen, entwickelt sich durch die gemeinsam gemachten Erfahrungen, auf die man in folgenden Entwicklungsdialogen zurückgreifen kann. 

Die Waldorfpädagogik besitzt mit dem Entwicklungsdialog ein mächtiges Diagnostikverfahren, das in vielerlei Hinsicht die besondere pädagogische Grundhaltung repräsentiert. Es ermöglicht nicht nur, das Kind in einer ihm angemessenen Weise zu erfassen, sondern auch Hilfen zu entwickeln und umzusetzen, die maßgeschneidert sind und dem individuellen Kind gerecht werden. Darüber hinaus – und nicht weniger wichtig – liegt im Entwicklungsdialog ein Schlüssel zur Qualitätssicherung: Im Gespräch wird es den Beteiligten ermöglicht, kontinuierlich von erfahrenen Kollegen zu lernen und sich selbst durch das eigene Tun zu verbessern. Sie lernen, Entwicklungsdialoge durchzuführen und Ideen für eine konkrete Hilfestellung zu entwickeln. Regelmäßig Entwicklungsdialoge durchzuführen, ermöglicht allen Teilnehmenden, sich im gemeinsamen Tun zum Wohle der Kinder zu verbessern und weiterzubilden. Deshalb sollte der Entwicklungsdialog im Kindergarten und in der Schule, aber auch in der in der Aus- und Fortbildung von Waldorfpädagogen, eine zentrale Rolle spielen.

Zu den Autoren: Dr. Daniela Heidtmann: Kommunikationswissenschaftlerin und -beraterin, Yogalehrerin. Promotion in Linguistik, Dissertation zu Unterrichtskommunikation, ehemalige Mitarbeiterin des Instituts für Deutsche Sprache (IDS Mannheim), Mitarbeiterin der Freien Hochschule Mannheim.

Dr. Reinhold Schmitt: Interaktionsanalytiker, Kommunikationsberater, Forschungsschwerpunkt: Unterrichtskommunikation. Promotion in Soziologie. Mitarbeiter des Instituts für Deutsche Sprache (Mannheim).

Das Buch Entwicklungsdialog. Eine Interaktionsanalyse im Waldorfkindergarten von Daniela Heidtmann und Reinhold Schmitt ist im Verlag für Wissenschaftstransfer erschienen.