Was wiegt ein Schwein? Die neue Eingangsstufe der Rudolf-Steiner-Schule Loheland

Kerstin Klippert

Die Schule in der Nähe der Barockstadt Fulda am Fuße der Rhön hat nach langjähriger Vorbereitung ihr Konzept »Lebensraum Schule« für die Klassen 1-3 in den pädagogischen Alltag integriert. Es bezieht das seit 85 Jahren biologisch-dynamisch bewirtschaftete Gelände um die Schule in die pädagogische Arbeit ein. Im »Lebensraum Schule« werden die Kinder nach der Begrüßung am Morgen in verschiedenen Bereichen tätig. Dazu gehören der Schulgarten und der Bauernhof mit den Tieren, die Wald- und Geländepflege, handwerkliche und hauswirtschaftliche Tätigkeiten und Spiele mit vielen Kindern im Freien.

Schafe lieben Ruhe

In einer kleinen Gruppe versorgen die Kinder die kleine Schafherde, die im Sommer zur Landschaftspflege eingesetzt wird. Die Kinder helfen beim Auf- und Abbau der Zäune, sie helfen, die Tiere auf die Weide zu bringen, sie mit Wasser zu versorgen und das Stromgerät zu kontrollieren. Auch bei der Klauenpflege und der Schafschur sind sie mit dabei. Manchmal hüten sie die Schafe auch außerhalb der umzäunten Flächen. Dabei lernen die Kinder Kräuter und Sträucher kennen, die die Schafe gerne fressen. Es erfordert viel Aufmerksamkeit und eine gute Zusammenarbeit in der Gruppe, die Tiere sicher über das Gelände und zurück zur Weide zu führen.

Im Winter werden die Schafe jeden Morgen im Stall mit Heu, Getreideschrot und Wasser versorgt. Danach gehen die Kinder in die Wollwerkstatt. Sie waschen, färben, kardieren und spinnen oder filzen die Wolle. Die Kinder erleben die vielfältigen Möglichkeiten der Wollverarbeitung. Das Filzen hat eine beruhigende und konzentrierende Wirkung auf die Kinder. Die selbst geschaffenen Werkstücke stärken das Selbstvertrauen und das Selbstwertgefühl.

Eseln ist fast nichts zu schwer

Drei Esel leben in einem offenen Stall mit Auslauf und können sich nach ihrem eigenen Rhythmus mit Wasser und Heu versorgen. Die Esel genießen den Besuch der Kinder sehr. Zunächst wird tüchtig gearbeitet. Der Stall wird gemistet, das Gelände abgeäppelt und die Eimer mit frischem Wasser gefüllt. Erst nachdem das getan ist, beginnt die Arbeit mit den Eseln. Nach einer liebevollen Begrüßung werden die Tiere gehalftert, intensiv gestriegelt und die Hufe ausgekratzt. Es entstehen Nähe, Respekt und Verantwortungsgefühl. Hervorragend geeignet sind die Esel für Transporte aller Art. Egal, ob geerntete Äpfel eingesammelt oder das Gemüse für die Gemeinschaftsverpflegung vom Feld geholt werden muss: Für die Esel ist fast nichts zu schwer. Sehr beliebt ist natürlich auch das Führen und Reiten zurück zum Schulhof.

Die Begegnung und der Umgang mit so großen und doch so geduldigen Tieren wie Eseln löst bei nahezu allen Kindern ein großes Glücksgefühl aus. Die Erfahrung, dass die Tiere uns folgen, ihre Schönheit und Zuneigung sind eine starke Motivation, alles gut zu machen und auch Anstrengungen und Herausforderungen anzunehmen.

Schweine mögen Abwechslung

Die Schweine wirken auf den ersten Blick nicht so anziehend und kuschelig wie Schafe oder Esel, bei den Kindern sind sie aber beliebt. Die Tiere sind sehr neugierig, sie knabbern und spielen mit allem Möglichen. Sie lieben die Abwechslung und machen eine ganze Menge Unsinn. Sie zeigen aber auch deutlich ihr Wohlgefühl, wenn sie gebürstet werden oder es ihnen richtig gut schmeckt.

Zusammen mit einem Erwachsenen versorgen vier bis acht Kinder die Schweine. Kein Kind muss mitarbeiten, aber es ist selbstverständlich, dass alle für das Wohlergehen der Schweine zuständig sind. Die Tiere leben im Freien, in einem überdachten, offenen Stall.

Die Arbeit hat einen wiederkehrenden Ablauf: Wir begrüßen die Schweine, verschaffen uns einen Überblick über die vorhandenen Futtermittel, füttern, misten aus und verteilen frisches Stroh. Wir schauen, ob es ihnen gut geht, ob sie gesund und unverletzt sind. Verfüttert werden gedämpfte Kartoffeln und Wurzelgemüse aus dem Garten und Grünfutter sowie hofeigenes Getreideschrot. Eingeweichtes Futter muss frisch verfüttert werden und es muss vorausschauend für Nachschub gesorgt werden, damit es am nächsten Tag auch Futter gibt. Manchmal wiegen wir die Schweine und auch uns selbst und andere Gegenstände auf der Viehwaage und lernen so Mengen abschätzen. Manche Kinder haben eine innige Beziehung zu den Tieren. Die Tiere bekommen auch Namen, wir streicheln und bürsten sie. Manche Kinder lieben das Ausmisten, andere versorgen lieber. Tüftler lieben es, neue Methoden des Strohtransports zu ersinnen.

Der »Lebensraum Schule« ersetzt so manche Therapie

In unserem Projekt Lebensraum Schule arbeiten und spielen die Kinder der ersten bis dritten Klasse jahrgangsübergreifend miteinander. Wenn die Arbeit erledigt ist, spielen sie noch gerne am Ort ihrer Tätigkeit (Stall, Garten, Backhaus). Wir staunen, wie stark dieses Bedürfnis ist. Besonders bei den Drittklässlern, die wegen des Stundenplans nur noch an zwei Tagen pro Woche im »Lebensraum Schule« mitarbeiten können. In den Gruppen sind oft die älteren Kinder versierter beim Arbeiten. Doch immer zeigen sich individuelle Stärken der einzelnen Kinder. So knüpft etwa ein kleines Mädchen ganz besonders geschickt Knoten oder ein Junge mit Down-Syndrom kann den Esel sehr gut führen. Diese Kompetenzen werden von Kindern und Erwachsenen wahrgenommen. In der Arbeit mit den Tieren finden die Kinder den Raum, über sich hinauszuwachsen.

Das Mädchen, das doch nicht so gerne in der Gruppe sein will, kann abwarten und in Ruhe seine inneren Hürden überwinden. Danach übernimmt es mit Leidenschaft eine Arbeit, vor der die anderen sich gerne drücken. Auf den Heuboden will jeder, aber wie viel Mut braucht es, die Leiter hochzusteigen. Wie stolz sind ängstliche Kinder, die es geschafft haben. Besonders schön wird die Arbeit, wenn Kreisläufe erlebbar werden, wenn aus dem, was wir heute tun, klar wird, was morgen zu tun ist. Die Schafe haben Durst, wir müssen ihnen Wasser bringen. Heute dämpfen wir Kartoffeln, damit die Schweine morgen etwas zu fressen haben. Die Wolle wurde geschoren, jetzt müssen wir sie weiterverarbeiten.

Die Zusammenhänge sind verstehbar, handhabbar und haben einen Sinn – das ist der salutogenetische Aspekt unserer Arbeit. Ein spannendes Beobachtungsfeld ist, welche Kinder sich zu welchen Tieren hingezogen fühlen. Manchmal entwickeln Kinder auch eine besondere Liebe zu einzelnen Tieren. Sie lernen, genau hinzuschauen und können fünf für den Erwachsenen identisch aussehende Schweine mühelos auseinander halten und mit Namen rufen.

Nah am Leben

Tiere werden geboren, Tiere sterben. Es ist bewegend, wenn morgens ein neugeborenes Kalb im Stall steht. Der große Esel Filou stirbt in den Osterferien. Frohe Erwartung macht sich breit, weil die Eselin trächtig ist und ihr Bauch wächst. Die Schweine werden geschlachtet, wenn der Martinsbasar ansteht und wir Bratwurst für das Fest brauchen. Für die Kinder sind das ungewohnte Einblicke, die ihnen sowohl innere als auch äußere Lebenszusammenhänge vermitteln.

Beim Füttern und beim Stecken der Zäune üben die Kinder am praktischen Beispiel Entfernungen und Mengen einzuschätzen. Sie werden körperlich stärker und geschickter. Wärmesinn und Gleichgewichtssinn bilden sich weiter aus. Sie können ihre grob- und feinmotorischen Fähigkeiten sowie die Auge-Hand-Koordination schulen.

Ob und wie sich alle diese Erfahrungen langfristig auf die Entwicklung unserer Kinder auswirken, ist ein spannendes Forschungsfeld, das wir Pädagogen beobachtend und in unseren regelmäßigen Arbeitstreffen evaluierend verfolgen. Bis jetzt sehen wir jedenfalls schon, dass die Kinder zufrieden, ausgeglichen und mit roten Wangen aus ihren Arbeitsgruppen zurückkommen und das anschließende Frühstück in den einzelnen Klassen in harmonischer Stimmung verläuft.

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