Hassobjekt Hausaufgaben. Warum wir sie trotzdem brauchen

Guido Peuckert

Als Klassenlehrer begleitet mich die Frage der Hausauf­gaben und warum es »uncool« ist, sich öffentlich für sie auszusprechen seit langer Zeit. Immer wieder versuche ich mit meinen Schülern, den Eltern und werdenden Lehrern darüber zu sprechen, wie ein selbstbewusstes »JA!« begründet werden könnte. Denn man kann nicht die Hausauf­gaben innerlich ablehnen und sie dann trotzdem regelmäßig einfordern. In Theorie und Lehre scheint es attraktiv zu sein, sich gegen sie auszusprechen. Doch die Praktiker kommen ganz ohne doch nicht aus – und das hat seine Gründe.

Gäbe es Hausaufgaben ohne Abschlüsse?

»Dasjenige, was wir anstreben müssen, das ist, den Lehrplan so zu bezwingen, dass wir außer der Schulstunde nichts brauchen«, so äußerte sich Steiner 1921 in den Konferenzen. Er bezieht sich auf den Lehrplan und trifft damit ins Schwarze! Es gilt, den Lehrplan zu »bezwingen«. Was müsste also verändert werden, um auf Nachmittagsarbeit verzichten zu können? Eine drastische Lehrplanveränderung mit noch stärkerem waldorfpädagogischem Fokus und die Einführung der Ganztagsschule! Doch wenn die Waldorfschulen weiterhin so auf (meist von Eltern) gewünschte Abschlüsse hinsteuern und es nach der Klassenlehrerzeit nur noch um »abprüfbares Wissen« in allen Hauptfächern geht – dann wird es nichts mit dem Beschränken auf die Schulstunde. Zu vielfältig sind die Anforderungen an den Hauptunterricht: Wir wollen und sollen den ganzen Menschen ansprechen, alle Kinder fördern und auf den rhythmischen Teil, Zeugnissprüche, Gespräche, Erzählteil, Kunst, und so weiter nicht verzichten. Drängt das Abschlussdenken zu stark herein, werden gerade die waldorftypischen Fächer reduziert oder gestrichen.

Hausaufgaben sind gut für gute Schüler

Die Tätigkeiten der Schüler außerhalb des Unterrichts (= Hausaufgaben) werden in der einschlägigen Literatur und den Verordnungen der verschiedenen Bundesländer in zwei Gruppen aufgeteilt: die didaktisch-methodische und die erzieherische.

In erster Linie geht es um die Unterstützung des Unterrichts und Übung; die Lernprozesse sollen vertieft und geübt werden. Dann folgt die Anwendung und Übertragung des Gelernten. Ein Transfer von Gelerntem in neue Situationen ist erwünscht. Hausaufgaben sollen motivieren, Interesse wecken und neugierig machen. Wichtig dabei ist, dass der Prozess des Lernens zu Hause individualisiert wird. Die Erziehung zur Selbstständigkeit ist das Hauptziel. Die Schüler sollen befähigt werden, selbstorganisiert mit Arbeitszeit, Arbeitstechniken und Hilfsmitteln (Informationsbeschaffung) umzugehen. Die Besprechung und Kontrolle der Hausaufgaben wiederum soll den Dialog mit dem Schüler fördern und ihm Selbstvertrauen in sein Tun geben. Bei ganz unterschiedlichen Aufgaben haben immer wieder andere Schüler die Möglichkeit, vor der Gruppe zu glänzen. Toll, wenn es sich um Dinge handelt, die für manche Kinder eine sinnvolle und gute Freizeitbeschäftigung darstellen. Es sind Glücksmomente, wenn man sich freiwillig erarbeitete, großartige Referate anhören kann oder die wundervoll gestalteten Epochenhefte betrachtet.

Hausaufgaben »demoralisieren«

De facto leiden jedoch viele Schüler unter den Hausaufgaben. Steiner dazu in einem Vortrag vor der zukünftigen Lehrerschaft der ersten Waldorfschule: »Man sollte nie außer Acht lassen, was es für eine wirkliche Erziehungskunst bedeutet, wenn Kinder etwas aufgetragen bekommen, was dann nicht zu erzwingen ist. Es ist viel besser, wenn man mit Zwangshausaufgaben haushält, so dass man darauf rechnen kann, dass dasjenige, was die Kinder zu tun haben, wirklich auch mit Lust und aus Überzeugung heraus getan wird, als wenn man fortwährend Aufgaben gibt, und dann Kinder darunter sind, die die Aufgaben doch nicht machen. Es ist das Allerschädlichste in der Erziehung, wenn immerfort Aufträge erteilt werden, die nicht ausgeführt werden. Das demoralisiert die Kinder in ganz furchtbarer Weise. […] Man sollte sich vielmehr bemühen, das Kind anzuhalten zum freiwilligen Arbeiten, wenn man durchaus will, dass die Kinder zu Hause arbeiten.«

Steiner hat sich hier also nicht gegen Hausaufgaben ausgesprochen, sondern gegen den »Zwang«. Viele, besonders leistungsschwache Kinder leiden unter der Regelmäßigkeit und vor allem dem Pensum. Die Schüler sollen von der Sinnhaftigkeit ihrer Aufgaben überzeugt werden und sie deshalb mit »Lust« erledigen – andernfalls werden die Aufträge nicht ausgeführt. Wenn nur die Hälfte der Schüler einer siebten Klasse heute ihre Aufgaben nicht gemacht hat – was ist das für ein Feedback für den Lehrer? Was sollte dieser denn nun in Frage stellen? Hoffentlich zuerst die Aufgabenstellung, ihren Umfang und Inhalt. Dieses Ergebnis sorgt natürlich für Frust, aber nicht nur beim Lehrer. Es ist auch ziemlich unangenehm für die betroffenen Schüler. Sie haben sich nicht an eine Vereinbarung gehalten. Sie entwickeln komplizierte Vermeidungsstrategien, die meist aufwändiger sind, als einfach die Dinge zu erledigen. Die Ausreden sind blumig – man muss sie oft mit Humor nehmen und es gilt »Gnade vor Recht«. Allerdings ist auch Wahrhaftigkeit ein Ideal und bei häufigem Geflunker muss der Lehrer deutlich Position beziehen – was meist nicht sehr angenehm ist. »Demoralisierend« wird es, wenn der Lehrer nicht dafür sorgt, dass die Hausaufgaben dann tatsächlich auch gemacht werden. Eine unbequeme und nervige Aufgabe, der sich aber ein Aufgabensteller stellen muss, will er seinen moralischen Kredit nicht verlieren. Die von Steiner geforderte Freiwilligkeit ist in den ersten und den letzten Schuljahren meist vorhanden. Viele Schüler arbeiten in dieser Zeit durchaus freiwillig. Zuerst machen sie es für den geliebten Lehrer, dann für ihre Abschlüsse. Aber in der Zeit dazwischen wird es schwierig.

Das richtige Maß finden

Freiwilligkeit in den Jahren dazwischen zu erreichen gelingt auch – manchmal. Dennoch hat man als Lehrer in dieser Zeit viel mit einem »Eseltreiber« gemein, der vorne die Möhre hält und hinten die Gerte schwingt. Doch in der Praxis liegt das größte Problem darin, dass viele verschiedene Individuen die gleichen Aufgaben erhalten. Es ist faszinierend, wie unterschiedlich die Herangehensweise, die Ausführung und vor allem der Zeitaufwand bei der Bewältigung der gleichen Aufgabenstellung sein können. Manche Schüler meiner Klasse erledigen achtzig Prozent oder mehr der gesamten Auf­gaben aus allen Fächern noch innerhalb der Schulzeit, während andere sich mehrere Stunden zu Hause abquälen. Also hat schon mal ein Teil der Klasse – ungefähr ein Drittel – überhaupt kein Problem mit dem Pensum. Darauf wird dann auch gerne von den Eltern hingewiesen: »Mein Kind hat zu wenig zu tun!« Das »mittlere« Drittel müht sich, aber wirklich schlimm sind die »Hausis« auch nicht.

Echte Schwierigkeiten hat das letzte Drittel. Diese Schüler können sich schlecht organisieren und konzentrieren. Sie brauchen schon lange, um überhaupt die Aufgabenstellung abzuschreiben und die Ausführung verlangt ihnen (und oft auch den Eltern) viel ab.

Die Schule ragt zu weit in das Häusliche hinein: Mama und Papa werden zu Hilfslehrern. Das sollen sie natürlich nicht sein. Dummerweise kommt es dann auch noch oft zu einem unnötigen Kommunikationsproblem zwischen den Erwachsenen. Beispielsweise bei den verschiedenen Rechenwegen, die zu einer richtigen Lösung führen.

Wie die Kinder der ersten Klasse »Schulkinder« werden, werden auch die Eltern »Schuleltern«. Hausaufgaben helfen, den Tag rhythmisch und gesund für das Kind zu gestalten. Das Kind kommt nach Hause, isst, ruht sich aus, macht seine Hausaufgaben und richtet abends seinen Ranzen. Das ist keine Option, sondern eine Notwendigkeit, damit es dem Kind in der Schule gut geht! Was darüber hinaus heute in einen Kindertag hineingepackt wird, liegt allein in der Hand der Eltern. Nicht der Lehrer sorgt dafür, dass keine Zeit zum Spielen bleibt. Eltern sollten dafür Sorge tragen, dass ihre Kinder zu regelmäßigen Zeiten und in der richtigen Lernumgebung die Aufgaben machen. Das kann auch der Küchentisch sein, wobei Kinder, die Schwierigkeiten haben, leichter lernen, wenn ihr Arbeitsplatz individualisiert und ihren Vorlieben angepasst wird. Auch hier gilt es maßzuhalten. Eltern müssen Eltern bleiben dürfen und Kinder Kinder. Es gibt im Leben mehr als Schule!

Individuelle Arbeitspensen

Ich versuche, das Arbeitspensum so zu gestalten, dass der größte Teil der Klasse es gut schaffen kann. Immer wieder hole ich mir hier die Rückmeldung von den Schülern. Das geht oft so weit, dass sich manche melden und mir erzählen, was in den anderen Fächern gerade anliegt oder ob an dem Tag Nachmittagsunterricht stattfindet. Da kann auch mal etwas verschoben, das Epochenheft später abgegeben, die Hausaufgaben minimiert oder in gewissen Hochzeiten (Weihnachten, Klassenspiele) ganz auf sie verzichtet werden. Die Vereinbarung sollte dann zwar ebenso eingehalten werden, aber es muss auch Platz zum Ausprobieren sein. Einzelabsprachen, die das Pensum individualisieren, müssen möglich sein.

In unteren Klassen sollten die Aufgaben abwechslungsreich und kreativ gestaltet werden, sie dürfen auch Spaß machen. Da sollen Dinge gesammelt, Phänomene beobachtet, Bilder gemalt, Rezepte gekocht, Witze gespielt, Tiere mitgebracht und Stöcke geschnitzt werden. Natürlich wird auch viel geschrieben und gerechnet – die allgemeinen Kulturtechniken brauchen Übung, besonders bei den Kindern, die in ihrer Freizeit nicht lesen. In der Mittelstufe wird der Blumenstrauß etwas weniger bunt. Die Anforderungen steigen in allen Fächern. Aufsatzformen werden geübt, Inhalte aus dem Unterricht wiedergegeben, es wird recherchiert, geforscht, Referate werden vorbereitet, Versuche in den naturwissenschaftlichen Fächern vorgeführt und es wird natürlich immer wieder gerechnet. Wichtig ist, dass die Jugendlichen den Sinn ihrer Übungen verstehen, sonst wird die praktische Aufgabe zu einer »Strafarbeit« und das Ansehen der Autorität sinkt. Beachtet man alle diese Faktoren, sind Waldorfschüler von Hausaufgaben nicht überlastet.

Zum Autor: Guido Peuckert ist Klassen- und Werklehrer an der Rudolf-Steiner-Schule in Lüneburg und Dozent am Waldorflehrerseminar in Hamburg.

Anmerkung: Inspiriert wurde ich durch das Gespräch mit Petra Brüel-Sasse und ihre Arbeit »Institution Hausaufgaben«, die sie am Seminar für Waldorfpädagogik in Hamburg eingereicht hat.