Ruck durch die Oberstufe. Ein Mentorenprogramm wartet auf seine Renaissance

Christian Boettger

Letztes Jahr war ich bei einer Klasse, die vor neun Jahren ihre Schulzeit mit der Mittleren Reife abgeschlossen hatte. Eine der brennenden Fragen einer ehemaligen Schülerin war, ob ich den Film »Alphabet« gesehen hätte. Der Film hatte die Mutter eines kleinen Sohnes sehr beeindruckt. Es müsse bei den Schülerinnen und Schülern viel mehr Initiative angeregt werden, die vielen Fächer, die 45-Minuten-Taktung, die festgefahrenen Jahrgangsgruppen und Vieles mehr könnten die schlummernden Potenziale auch in den Waldorfschülern in der Regel nicht wecken, meinte sie. Das Lernen im Klassenzimmer werde immer weniger gefragt sein. Die sogenannten Wahlpflichtkurse damals seien doch ein Schritt in die richtige Richtung gewesen, was sei denn daraus geworden?

Attraktive Wahlpflichtkurse

Diese Wahlpflichtkurse hatten einige Oberstufenkollegen zusammen mit Jugendlichen aus der Schüler-Mitverwaltung eingerichtet. Für die Kurse wurde die beste Zeit im Stundenplan: die erste und zweite Fachstunde am Mittwoch, von 10 bis 12.30 Uhr freigehalten. Es wurden Kurse von Lehrern, Eltern und Schülern angeboten und alle Schüler von der 9. bis 12. Klasse mussten aus dem Angebot einen Kurs auswählen. Die Kurse dauerten in der Regel zehn bis zwölf Doppelstunden, also etwa vier Monate. Alle Angebote wurden in einer gemeinsamen Doppelstunde vorgestellt und dann durfte gewählt werden. Eine feierliche Präsentation der Ergebnisse rundete die Arbeit der Kurse ab. In diesen Wahlpflichtkursen wurden jahrgangsübergreifend neben Konversation in Englisch und Französisch, Aufsatzschulungen oder Übungen zur Lösung von Matheaufgaben, viele künstlerische Fächer (Tanzen, Gitarrenkurse, Impro­visationstheater oder Literatur), aber auch politische oder soziale Projekte angeboten. Mit diesen Kursen ging ein richtiger Ruck durch die ganze Oberstufe.

Schüler als Mentoren

Als einzelne Teilnehmer für die Schülermentorenausbildung Sport des baden-württembergischen Kultusministeriums Interesse zeigten, diese erfolgreich absolvierten und dann auch sehr erfolgreiche Arbeitsgruppen leiteten, entstand die Idee, im Rahmen der Wahlpflichtkurse auch eine solche Mentorenausbildung für den Bereich Mathematik anzubieten. Meinen Kurs besuchten meiner Erinnerung nach acht bis zehn Schüler und Schülerinnen von der neunten bis zur zwölften Klasse. Wir erarbeiteten Aufgabensammlungen zu verschiedenen Themengebieten und übten in Kleingruppen Erklärungswege und Fragen, um an die Gedanken der Mitschüler heranzukommen.

In den darauffolgenden Monaten übernahmen diese Schülermentoren dann insgesamt drei Mathe-Übgruppen. Mehr als 30 Schüler konnten sich nun in diesen Mittwochstunden mit Themengebieten beschäftigten, von denen sie meinten, sie nicht genügend verstanden zu haben. Bei schwierigeren Problemen stand ich für die Mentoren im Hintergrund zur Verfügung, wurde aber höchstens gebraucht, um neue Aufgaben zu suchen oder zu kopieren. Bei unserem oben erwähnten Klassentreffen begeisterte sich eine Kollegin wieder an jenem Schüler, der an einem dieser Mittwoche trotz Gipsbein in die Schule kam, um den Kurs für seine Matheschüler zu geben. Wichtig für uns Kollegen war die Erfahrung, mit welch einfachen Mitteln wir ein stärkeres Engagement und Verantwortungsgefühl der Schüler für ihren Lernprozess erreicht hatten. Lern- und Arbeitsthemen rückten plötzlich in den Mittelpunkt der Schülergespräche. Selbstverständlich wurden die Kurse, die Schüler in diesem Rahmen gaben, auch in den Zeugnissen dokumentiert und gewürdigt. Immer wieder animierten wir auch einzelne Schüler dazu, Kurse zu ihren Jahresarbeitsthemen anzubieten, die auch gut angenommen wurden.

Pläne für die Zukunft

Aus diesen Erfahrungen entstanden viele weitere Ideen, die bisher leider nicht umgesetzt wurden, aber auf eine Verwirklichung dringend warten: Man könnte diese Kurse deutlich stärker ausweiten und über die ganze Woche verteilen. Viele Fachstunden, die zur Prüfungsvorbereitung verwendet werden, in denen viel geübt und wiederholt wird, könnten klassen- und jahrgangsübergreifend in solchen Kursen gegeben werden. Schüler, die zum Beispiel in Französisch sicher sind, könnten entweder in diesem Fach selbst einen Kurs anbieten, oder sich um ihre Schwachpunkte in anderen Fächern kümmern, oder einfach eine weitere Sprache oder eine künstlerische Vertiefung wählen. Fachlehrer könnten, anstatt immer wieder dieselben Themen zu wiederholen, Vertiefungsangebote für die besonders Interessierten anbieten. Mit entsprechenden Nachweisen der Lernerfolge und einer guten Lernbegleitung durch Mentoren könnte die Selbstverantwortung für den Lernprozess auf diese Weise enorm verstärkt werden. Wichtig wäre es aber auf jeden Fall, dass Schüler angeregt würden, selbst als Mentoren für Gleichaltrige oder Jüngere zu agieren. Jeder, der das einmal gemacht hat, hat unmittelbar erfahren, wie viel tiefer der Stoff sich in einem gesetzt hat, den man einem Anderen erklären durfte. Aus dem damaligen Kurs haben übrigens zwei Schüler inzwischen das Lehramtsstudium zum Mathematiklehrer abgeschlossen. Auch weil sie damals die Erfahrung gemacht haben, wie erfüllend es sein kann, am Lernerfolg von Anderen beteiligt zu sein.

Eine weitere Idee, die den Gedanken aufgreift, dass man durch die Arbeit mit jüngeren Schülern am Lernstoff am tiefsten lernt, besteht darin, große Teile einer Klasse zu Lernpartnern oder Mentoren der Jüngeren zu machen: In den sogenannten Lernfächern gibt es Patenschaften von der 10. Klasse für die 7., von der 11. für die 8. und der 12. für die 9. Letztere allerdings nur für das erste halbe Jahr. In der zweiten Hälfte der 9. Klasse erarbeiten die Fachlehrer und Klassenbetreuer mit der Klasse die eigenen Lernerfahrungen und Lernwege. Hier wird reflektiert, wie die Arbeit der 7. und 8. Klasse gelaufen ist. Dann werden die Schüler angeleitet, wie man selbst zu einem Mentor für die 7. Klasse werden kann. In der 10. Klasse sind sie dann Mentoren für die 7. Klasse und dürfen mit den Schülern an den Grundlagen arbeiten und ihre eigenen Lücken schließen. Das wird in der 11. Klasse und im ersten Halbjahr der 12. Klasse fortgeführt. Das zweite Halbjahr dient dann der eigenen Prüfungs­vorbereitung. Dieses Modell kann nur im Rahmen einer sogenannten gebundenen Ganztagsschule (mindestens drei Schultage von 8-16 Uhr) funktionieren und eventuell in Kombination mit den obengenannten Wahlpflichtkursen.

Mein Traum ist, alle Prüfungsvorbereitung in die Verantwortung der Schüler zu übergeben und die anderen Inhalte und Fächer, die wir für eigentlich wichtig halten, wirklich frei zu unterrichten.

Zum Autor: Christian Boettger ist Geschäftsführer beim Bund der freien Waldorfschulen. Er war Oberstufenlehrer für Mathematik und Physik an der Waldorfschule in Schopfheim.

Link: Schülermentorenausbildung Sport des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport, Baden- Württemberg: http://www.schulsport-in-bw.de/schuelermentoren.html