Erziehungsstress? Plädoyer für eine familienzentrierte Prävention

Kirsten Schreiber

Stress in der Familie?

Der Pubertierende schreit es durchs Haus, der Partner denkt es lediglich und verzieht die Miene genervt und der Erstklässler bekommt einen Wutausbruch. »Kann man denn nicht mal hier seine Ruhe haben?« Schon hängt der Haussegen schief, und das alles meist nur aufgrund von Lappalien: Der Müll müsste rausgebracht werden, die Spülmaschine sollte ausgeräumt sein und der Termin beim Kieferorthopäden könnte ausnahmsweise mal pünktlich eingehalten werden. »Sag doch auch mal was …«, lautet die Aufforderung an den Partner.

Wem einiges vertraut erscheint, dem sei versichert, dies ist kein Ausnahmezustand, wie die repräsentative Forsa-Studie zur Belastung von Familien (Herbst 2014) zeigt. Familienmitglieder gaben folgende Auskünfte:

• 65 Prozent gaben an, sehr hohe Ansprüche an sich selbst zu haben und sich selbst unter Druck zu setzen;

• 62 Prozent erleben Druck durch die hohen Leistungsanforderungen unserer Gesellschaft;

• 46 Prozent der Eltern empfinden es als anstrengend, die vielen Freizeitaktivitäten der Kinder zu organisieren;

• 38 Prozent wünschen sich mehr innere Ausgeglichenheit, Lockerheit und Gelassenheit;

• 62 Prozent sagten, dass Eile und Zeitdruck ihren Alltag bestimmen;

• 37 Prozent klagten über finanzielle Sorgen;

• 37 Prozent der Kinder sagten, dass sich ihre Eltern oft Sorgen machen;

• 36 Prozent der Kinder empfinden ihre Eltern als gestresst, weil sie alles perfekt machen wollen, und

• 35 Prozent der Kinder gaben an, dass ihre Eltern oft aufgrund von wenig Zeit und viel Arbeit gestresst sind.

Eine AOK-Familienstudie (SINUS-Institut, 2014) belegte darüber hinaus, dass der Gesundheitszustand der Kinder mit der Qualität der innerfamiliären Beziehungen korreliert. Dabei kann die Familie grundsätzlich als die Ressource schlechthin gegen Stress bezeichnet werden.

Aus der Prophylaxe gegen Burnout wissen wir: Gute zwischenmenschliche Beziehungen sind das beste Anti-Stress-»Vitamin«! Nur, wie allen Ansprüchen gerecht werden? Das eigene Regenerationsbedürfnis kollidiert nicht selten mit anderen innerfamiliären Erwartungen und mit diversen gesellschaftlichen Anforderungen und Pflichten.

Die Eltern müssen sich auch um sich selber kümmern

Wenn zwischenmenschliche Beziehungen als »Vitamin« gegen Stress wirken können, dann müssten wir das familiäre »Immunsystem« stärken, also eine innerfamiliäre Resilienz aufbauen können. Dies dürfen wir als familiäre Entwicklungsaufgabe betrachten. Entwicklung kann jedoch nur in herausfordernden Situationen geschehen und nicht in überfordernden.

Wie können wir diese familiäre Immunität erreichen? Wichtig ist zum einen, unsere Regenerationsfähigkeit als Paar herzustellen. Denn meist tritt die Paarbeziehung aufgrund sich neu ordnender Familienbedürfnisse zugunsten des Kindes in den Hintergrund. Das ist zunächst einmal ganz normal. Die Zeit als junge Familie ist mit Unsicherheiten und Herausforderungen verbunden. Jetzt werden ganz selbstverständlich Prioritäten gesetzt und so ist es zunächst ganz wesentlich und unbedingt notwendig, die eigenen Bedürfnisse zugunsten des Kindes zurückzustellen.

Zurückstellen heißt jedoch nicht, sie aufzugeben, schon gar nicht mit der »Entschuldigung«, es bliebe einfach keine Zeit für die Paarbeziehung. Wenn Eltern dies glauben, befinden sie sich auf dem besten Wege, sich als Paar auseinander zu leben. Die Beziehungsqualität verkümmert.

Stattdessen sollten Paare aktiv, mit Ritualen oder kleinen Verabredungen ihre Paarbeziehung pflegen. Dabei wirkt die Qualität vor der Quantität auch präventiv gegen Stress.

Beziehung bedeutet, wirkliches Interesse aneinander zu haben, sie lässt sich nicht in Zeit messen, nur in wahrhaftiger Begegnung. Diese Begegnung passiert nicht von selbst, es braucht den bewusst gestalteten Moment.

Zu Empathie auf Umwegen

Zum Gefühl, sich beim anderen aufgehoben und verstanden zu fühlen, gehört auch, empathisch auf den anderen zu reagieren, anstatt ihn nur mit Ratschlägen zu Lösungen bewegen zu wollen. Gelingt dies, so wirkt es vorbeugend gegen Kraft zehrende Konflikte, für die es in Familien eine gewisse Anfälligkeit gibt. Wenn wir uns verstanden fühlen, werden wir nicht in den inneren Widerstand gehen.

Eine kleine Übung kann verdeutlichen, was damit gemeint ist: Stellen Sie sich eine typische Situation vor, in der Ihr Partner oder Ihre Partnerin unter Stress gerät. Vermutlich kennen Sie die übliche »Choreografie« schon recht gut, inklusive Ihrer eigenen Reaktion, obwohl Sie es doch nur gut gemeint haben. Vielleicht müssen Sie sich eingestehen, dass Ihre Lösungsvorschläge eher den Stress verstärken als abmildern.

Es mag widersinnig klingen, aber stellen Sie sich in dieser Situation einmal vor, was Sie selbst (nicht Ihr Partner oder Ihre Partnerin) tun müssten, um sie zu verschlimmern!

Wie müssten Sie sich verhalten? – Sobald Ihnen ein Gedanke dazu kommt, werden Sie mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit bemerken, was Sie tun müssen, um die Situation zu verbessern und Ihrem Gegenüber zur Seite zu stehen. Hier und jetzt kann Empathie entstehen! Durch diesen gedanklichen Umweg können unsere üblichen, eingeschliffenen Denk- und Reaktionsmuster durchbrochen und die Tür zu bis dahin nicht zugänglichen eigenen Ressourcen aufgestoßen werden. Es lohnt sich also, in diesen Moment – und mehr ist es meist nicht – zu investieren, auch wenn man an den äußeren Rahmenbedingungen zunächst nichts ändern kann.

Zeitmanagement ist Selbstmanagement

Als Eltern lenken wir, geprägt durch unseren biografischen Erfahrungsschatz, alle Gedanken auf die Zukunft unserer Kinder. Ständig berücksichtigen wir – schon fast unbewusst – den zielgerichteten Sinn und Zweck jeglicher Aktivität. Unsere Anwesenheit in der Gegenwart kommt dabei zu kurz. Sie wird uns nicht geschenkt. Durch den Zukunftsfokus entstehen Sorgen und Ansprüche an uns selbst und andere Familienmitglieder.

Leistungsdruck, mithalten wollen, alles perfekt machen wollen, bloß keine Schwächen zeigen und beliebt sein wollen – dies sind persönliche Einstellungen und Ansprüche an mich selbst und die Umwelt, die leicht zur Überforderung führen. Zwangsläufig entsteht das Gefühl, zu wenig Zeit zu haben. Kann ich zu mehr Gelassenheit gelangen, wenn ich mich von dem einen oder anderen überspitzten Anspruch befreie? Was passiert schon Schlimmes, wenn ich mal nicht perfekt bin, mal schwächle, einen Termin absage? Vermeintlich keine Zeit zu haben, bedeutet doch nichts anderes, als andere Prioritäten zu setzen. Diese Prioritäten wollen jedoch bewusst gewählt sein.

Immerhin hat der Tag für jeden von uns 24 Stunden und was im klassischen Stressmanagement verwirrenderweise als »Zeitmanagement« bezeichnet wird, ist eigentlich Selbstmanagement, also eine Willensübung. Es kann also faktisch niemandem an Zeit mangeln und niemand anderes ist an unserem eigenen Mangelempfinden schuld. Gelingt es, dies zu akzeptieren, muss ich mich nicht länger als Opfer äußerer Umstände fühlen und kann Handlungsfähigkeit entwickeln.

Es klingt banal und ist doch so schwierig umzusetzen, weil unsere persönlichen, lang verinnerlichten Verhaltensmuster automatisch dazwischen funken. Wenn diese Muster jedoch durchbrochen werden, gelingt es, das vermeintlich Wichtige vom Wesentlichen zu unterscheiden.

Gute zwischenmenschliche Beziehungen, insbesondere innerhalb der Familie, sind etwas Wesentliches. Es lohnt sich!

Zur Autorin: Kirsten Schreiber ist Diplom-Sozialpädagogin, Sozialmanagerin, Systemische Paar- und Familientherapeutin, Musiktherapeutin, Pädagogisch-therapeutische Leiterin und Mitglied der Geschäftsführung am Familienforum Havelhöhe, Berlin; Projektleitung »familienzentriertes Stressmanagement«

www.familienforum-havelhöhe.de

Literatur: AOK-Familienstudie 2014 (Forschungsbericht des SINUS-Instituts), Berlin, März 2014

R. Ballreich; W. Held; M. Leschke: Stress Balance – Wege zu mehr Lebensqualität. Gesundheitspflege initiativ, Esslingen 2009

Forsa-Studie 2014: »Ansprüche ans Elternsein«

G. Kaluza: Stressbewältigung, Berlin 2011

K. Schreiber: Resilienzfaktor Familie – Qualitative Aspekte eines Präventionskonzeptes dargestellt am Beispiel des Familienforum Havelhöhe. Masterarbeit im Studiengang Sozialmanagement, Berlin 2013