»Es ist wie ein Kippbild«

Erziehungskunst | Frau Bleckmann, wie vereinbaren Sie Familie und Beruf?

Paula Bleckmann | Um auch für die Kinder da zu sein, wollte ich eine halbe Professorenstelle. Das ist ungewöhnlich, hat aber geklappt. Jetzt habe ich eine 60-Prozent-Stelle für Medienpädagogik an der Alanus-Hochschule. Schon nach meinem Biologiestudium hatte ich mit 23 Jahren zwei Promotionsangebote abgelehnt, weil mir die Standard-Universitäts-Karriere nicht mit einer Familienperspektive vereinbar schien. Das gehörte nicht zu meinem Lebens- konzept, das durch den Umgang mit meinen jüngeren Geschwistern geprägt wurde. Für mich war damals schon klar: Ich will Kinder. Mitentscheidend war auch das Familienmodell meiner Eltern, beide Wissenschaftler. Wir fünf Geschwister haben deutlich gespürt, dass sie große Freude an uns hatten. Von meinen Eltern habe ich die Botschaft mitbekommen: Die drängendsten Probleme in der Welt lassen sich nur lösen, wenn in der jeweils nächsten Generation starke und engagierte Persönlichkeiten heranwachsen. Und dafür braucht es Erwachsene, die sich wirklich Zeit für Kinder nehmen. Bei uns war das meine Mutter, die jetzt im Alter voll berufstätig ist.

EK | Was hat Sie veranlasst, nach ihrer Zeit als Klassenlehrerin eine wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen?

PB | Während meiner Klassenlehrerzeit bekamen wir das erste Kind. Es folgten zwei weitere. In dieser Zeit bekam ich ein Gespräch zwischen zwei Müttern mit. Sie schauten während der nächtlichen Stillzeit die Serie »Desperate Housewives« an. Ich dachte: »Fernsehen in einem solch intimen Moment …?« – Das war die Geburtsstunde meiner Entscheidung, mich für medienpädagogische Aufklärung und Beratung von Eltern stark zu machen. So fand ich mein wissen­schaftliches Thema. Während der dritten Schwangerschaft schrieb ich das Exposé für meine Dissertation.

EK | Wurden Sie durch Freunde oder Verwandte entlastet?

PB | Als unser Jüngster fünf war, zogen meine sehr alten Großeltern und später meine Eltern mit uns in ein Haus. Meine Eltern waren aber selbst voll berufstätig, so dass es hier kaum Entlastung gab, eher durch die entfernter wohnenden Schwiegereltern. Später durch ein Au-Pair-Mädchen und dann in der Habilitationsphase durch eine erfahrene Kinderfrau an drei Nachmittagen die Woche, die, wenn ich unterwegs war, sogar in die Elternabende ging. Mein Mann arbeitet als Richter und hat während meiner Promotionszeit auf eine halbe Stelle reduziert. Dennoch hatte ich damals das Gefühl: Es ist zu viel.

Nach der Doktorarbeit widmete ich mich einige Jahre lang wieder fast ganz den Kindern und den Großeltern. Was ich damals am meisten vermisst hatte, war lange Weile. Ich merkte, dadurch geht Lebensqualität verloren und zwar unbemerkt. Die Seele eines Hauses leidet, wenn keine Atmosphäre der Muße darin herrscht. Mainstream ist Verein- barkeit. Es funktioniert alles, aber die Beziehungsqualität geht verloren. Ich bin deshalb eine entschiedene Nichtvereinbarerin.

EK | … Nichtvereinbarerin? Machen Sie nicht das Gegenteil?

PB | Nein. Ich war ja insgesamt etwa sieben Jahre lang Vollzeit-Mutter mit kleinen Hobbies nebenher, wie ein paar Nachhilfestunden, ein bisschen Tagesmutter-Tätigkeit, Springerin an der Schule. Schade, dass man bei Bewerbungen im Lebenslauf solche Familienphasen eher verstecken muss. Dabei habe ich selbst die Impulse für viele meiner Forschungsfragen als Wissenschaftlerin aus diesen erfahrungsgesättigten Zeiten mitgenommen. Es bedarf in meinen Augen einer viel stärkeren gesellschaftlichen Anerkennung der Erziehungszeiten. Elternsein kann man doch mit genauso viel Recht als eine Qualifikationsphase wie als Berufspause bezeichnen, und das nicht nur in pädagogischen Berufen. Ich selbst konnte jedenfalls bewusst in bestimmten Phasen meines Lebens die Schwerpunkte setzen, in denen einmal Berufliches, ein anderes Mal Familiäres nacheinander Priorität hatten – doch niemals dauerhaft auf Kosten der Kinder und der Partnerschaft.

Ich wurde damals gefragt: Hast Du keine Angst, den beruflichen Anschluss zu verlieren? Nein, Angst hat mich zu nichts veranlasst. Ich war erfüllt als Mutter. Ich hatte keine Existenzsorgen, hätte immer als Lehrerin arbeiten können. Ich hatte keine Angst, nicht mehr gebraucht zu werden. Ich wollte meine Lebensbedingungen selbst bestimmen, nicht zwanghaft alles gleichzeitig machen.

Es ist ja umgekehrt: Wer partout vereinbaren will, hat Angst, etwas zu verlieren. Wer entgegen dem Mainstream nicht vereinbart, braucht innere Stärke und Selbstbewusstsein. Ich hatte allerdings immer die Freiheit, aus Interesse, nicht aus wirtschaftlichen Zwängen heraus, arbeiten zu können.

EK | Dann kam nochmals eine Doppelbelastung während ihrer Habilitation …

PB | Ja, das war in der Familienphase der erste Vollzeitjob, und ich musste mich quasi verdoppeln. Man arbeitet in zwei Bereichen, was zu einem inneren Gefühl der Zerrissenheit führt, zu einem Gefühl, keinem der Bereiche ganz gerecht werden zu können.

Ich habe die Doppelbelastung aber auch genauso oft als gegenseitige Befruchtung erlebt. Familie und Beruf bereichern sich gegenseitig und das ist erfüllend.

Es ist wie ein Kippbild: Die gleiche Situation wird einmal als Belastung, ein andermal als Bereicherung erlebt. Das Bild kann ganz schnell kippen, zum Beispiel wenn ein Kind krank ist, aber ich habe gemerkt, dass das nicht nur durch äußere Einflüsse passiert, sondern auch eine Frage der inneren Einstellung ist. Man muss den Ehrgeiz aufgeben, allem gerecht zu werden und die Tugend der Bescheidenheit üben.

EK | Wie reagieren Ihre Kinder auf Ihre Berufstätigkeit?

PB | Wir haben jetzt, wo alle Kinder über zehn Jahre alt sind, auf die Kinderfrau verzichtet, auch weil wir merkten: Die Fremdbetreuung machte die Kinder tendenziell unselbstständig. Als Eltern haben wir die langfristige Entwicklung viel mehr im Blick als das Aupair-Mädchen oder die Kinderfrau. Uns ist es wichtig, dass die Kinder zunehmend selbst Verantwortung übernehmen, im Haushalt, für die Geschwister, für ihre eigenen Aufgaben und Hobbies. Wenn Sie die Kinder fragen würden, würden die das sicher nicht nur gut finden.

EK | Haben Sie manchmal ein schlechtes Gewissen?

PB | Ja, oft sogar. Aber das nützt weder mir noch den Kindern. Was nützt, ist, wenn es mir gelingt, herauszufinden, wie es den Kindern wirklich geht und ob meine innere oder äußere Abwesenheit für bestimmte Probleme überhaupt eine wahrscheinliche Ursache ist. Das lässt sich am besten durch genaues Beobachten und durch Gespräche mit anderen engen Bezugspersonen der Kinder herausfinden. Daraus ergibt sich manchmal Entwarnung, und als überbesorgte Mutter kann ich wieder ruhig schlafen. Oder es zeigt sich, dass ein Kind wirklich leidet, und dann habe ich bisher immer die berufliche Notbremse gezogen.

EK | Hat sich die Rolle des Mannes ebenfalls verändert?

PB | Das ist eine Frage, die Sie Männern stellen müssen. Allerdings stellt sich ihnen die Vereinbarkeitsfrage genauso. Im akademischen Mittelbau sind heute nicht nur 80 Prozent der Frauen kinderlos, sondern auch 70 Prozent der Männer.

Wenn Männer wegen der Familie beruflich kürzer treten, ernten sie dafür in der Regel weniger gesellschaftliche Anerkennung. Die Berufstätigkeit von Müttern beinhaltet auch Chancen für die Väter. Plakativ ausgedrückt: Mama steht nicht immer daneben und kommentiert, was Papa mit den Kindern jetzt wieder falsch gemacht hat. Loslassen, Verantwortung abgeben, auch andere Lösungen als die eigene akzeptieren – das fällt mir eher schwer.

Es klappt eigentlich dann am besten, wenn ich mal nicht zu Hause bin. Welch freudige Überraschung, wenn ich wiederkomme und irgendwie doch alles geklappt hat. ‹›

Die Fragen stellte Mathias Maurer.

Paula Bleckmann (44), verheiratet, 3 Kinder, studierte Biologie, bevor sie eine Fortbildung am Lehrerseminar für Waldorfpädagogik in Kassel machte und Klassenlehrerin an der Integrativen Waldorfschule Emmendingen wurde.

Sie promovierte über medienpädagogische Elternberatung an der Universität Bremen und es folgte eine Forschungstätigkeit am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen in Hannover zum Thema »Internet- und Computerspielabhängigkeit«, die zu einer Habilitation an der Pädagogischen Hochschule Freiburg führte.

Heute forscht Paula Bleckmann zu Medienmündigkeit und Mediensucht an der Alanus Hochschule Alfter.