Durch das Malen entfaltet sich die Seele

Christiane von Königslöw

Die Klassenlehrerin der ersten Klasse der Blote-Vogel- Schule in Witten bat mich, ihre Klasse ein Jahr lang künstlerisch zu begleiten. Was sie denn von mir erwarte, fragte ich. Sie gab zur Antwort: Für ihre Kinder eine Pflege der Seele. Darüber war ich sehr glücklich – denn das ist mein Anliegen: Durch das Malen kommt man sich schnell nahe. Die Seele öffnet sich, die schönen Seiten der Kinder werden angeregt und gestärkt und Defizite ausgeglichen. Wir verabredeten, dass jedes Kind zweimal im Jahr einen Block von vier bis fünf Hauptunterrichtsstunden bei mir haben und das Versäumte später bei ihr nacharbeiten sollte.

Jeder Tisch ein Atelier

Die Kinder kommen munter trappelnd und schwatzend oder ganz still und schüchtern die große Treppe herauf in den »Atelierraum« über dem Hort der Schule. Ich bin ebenso neugierig wie sie: Was wird sich heute ereignen? Was werden wir heute tun können? Wie ist heute die Stimmung?

Da ist eine Gruppe, die will vor allem spielen, sich verkleiden. Ein anderes Mal möchten die Kinder gleich malen. Jedes sucht sich einen eigenen Tisch als »Atelier« aus, stellt die Gläser mit Farben um sich herum, richtet sich häuslich ein – und los geht’s! Eine andere Gruppe will zuerst einmal putzen und aufräumen. Nikolas zum Beispiel will immer erst Ordnung schaffen im Raum und zieht die anderen mit. Wir haben aber weder Besen noch Schrubber, weder Kehrschaufel noch Handfeger und auch keinen Wassereimer. Kinder sind Erfinder! Nikolas bastelt sich aus Papier eine Kehrschaufel, einen Handfeger findet er in irgendeiner Ecke und so kann er nun ausdauernd und gewissenhaft den Fußboden fegen.

Zwischen Spiel und Arbeit

Das Tun der Kinder pendelt immer zwischen Arbeit und Spiel. Die Arbeit ist eine vorgegebene Tätigkeit mit einem Ziel. Das Spiel dagegen ist eine Tätigkeit, die ganz von innen kommt, aus dem Bedürfnis der Seele, sich zu äußern. In der Arbeit ist der Mensch fremdbestimmt und zweckgebunden, denn der Zweck bestimmt die Handlung. Im Spiel bestimmt der Mensch die Handlung, da ist er frei, nicht an den Zweck gebunden. Da gestaltet das Innenleben des Menschen die Handlung.

Wenn ein Kind arbeitet, zum Beispiel beim Putzen, kommt immer der Punkt, an dem die Arbeit ins spielerische Tun umschlägt. Dann heben die Kinder ab – in die Welt der Phantasie, sie werden kreativ. Die Kinder beginnen, mit ihren nassen Läppchen Muster auf die trockene Tafel zu malen, oder sie werfen die Lappen an den oberen Tafelrand. Das klatscht lustig  – ein klangvolles Spiel! Ein solches Spiel darf man nicht als Chaos oder Abschweifung abtun oder gar verbieten. Im Gegenteil: Der Wechsel zwischen Arbeit und Spiel erfolgt in den unteren Klassen rasch. Darauf muss sich der Pädagoge einstellen.

Wenn ich zuerst der individuellen momentanen Stimmung der Kinder Raum gebe, kann ich später mein eigentliches Pensum schneller schaffen. Auf die Stimmung, auf die momentane Befindlichkeit der Kinder einzugehen, ist eine Übung für das Eigentliche. Ich habe die Kinder dabei in eine Richtung gebracht, ihren Schaffensdrang geordnet.

Ein Schwelgen in Federn

Die Themen, die die Kinder malen, sind – wenn sie nicht ganz eigene Motive ausdrücken – aus der jeweiligen Jahreszeit genommen, denn die Seele geht mit der Jahreszeit, und mir kommt es darauf an, die Seele anzusprechen, herauszulocken und zu stärken.

Ein Beispiel: Es ist die Zeit zwischen Ostern und Pfingsten. In der Natur beginnt es zu wachsen, zu blühen; die Vögel paaren sich, bauen ihre Nester, brüten und die Jungen schlüpfen – die Erde atmet aus nach dem langen Winter … Ich sage: »Heute wollen wir Tonvögelchen kneten.« Die Kinder rufen: »Das kann ich nicht!« Ich beginne, ihnen eines vorzuformen und helfe, wo es nötig ist. Die Kinder bekommen Freude am Gestalten. Ihre Vögel werden entweder recht naturgetreu oder haben – aufgrund der fehlenden Technik – den Charme des Surrealen.

Das nächste Mal lasse ich Vögel aus weißem oder rosa Knetwachs formen und sie auf kleine bemalte Schiefertafeln drücken, die ich einmal in den Weinbergen an der Mosel gefunden habe. Wer möchte, darf silbernen oder goldenen »Himmelsstaub« darüber streuen.

In der dritten Woche kneten die Kinder Pfingstvögel, nun als Schmuck für das Fest gedacht. Diese Vögel bekommen Flügel aus Federn. Ich breite meine Federn von einem Bauernhof aus Italien vor den Kindern aus: einen kleinen weichen weißen Hügel. Gleich greifen die Kinderhände selig und gierig hinein und suchen und wählen nach ihren Wünschen und Vorstellungen. Mein Plan: Aus Bienenwachs Pfingsttauben zu kneten, in die je drei Federn für Schwanz und Flügel hineingesteckt werden sollen. Doch es wird ein Schwelgen in Federn daraus. Die Tauben werden zu üppigen Federknäueln – schöner, als sie es je in meiner Vorstellung waren.

Beim vierten und letzten Treffen malen wir den endgültigen Pfingstvogel für das Fest. Die Stimmung ist festlich geworden; dementsprechend werden die Vögel zu wahren Pfingsttauben!

Vom Abbild zum Urbild

Was ist in diesen vier Wochen in den Kindern vor sich gegangen? Vom ersten Mal an, als die Kinder sagten: »Das kann ich nicht« bis zu dem Moment, wo der Pfingstvogel nicht mehr ein plumpes

vogelähnliches Gebilde war, sondern sich luftig und leicht in die Lüfte hob? Durch Vertiefung und Wiederholung eines bestimmten Themas sind die Kinder vom Vorstellungsmäßigen und Abbildhaften zum Urbild, zum Wesenhaften vorgedrungen – oder besser: darin eingedrungen. Das kann ein Kind leichter als der Erwachsene. Aus der plumpen Abbildung der Vogelform entwickelte sich ein Vogelwesen, das wirklich in den Himmel fliegen oder von dort auf die Erde kommen kann – mit Himmelsglanz übersprüht, in weiße Flaumfedern gehüllt, so zart und weich, wie es nur ein reines Kinderherz gestalten kann.

Als ich einmal ein Kind im Kindergarten fragte, woher es seine Weisheit und sein Können habe, antwortete mir das fünfjährige Mädchen: »Das hat mir mein Herz gesagt.« Oder ein anderes Kind: »Alles Wissen sammelt sich im Herzen.« – Herzwissen! Das heißt: Als Begleiter des Kindes habe ich die Aufgabe, es an sein Herzwissen wieder anzuschließen, damit es so etwas Schönes hervorbringen kann, oder das Herzwissen zu schützen, wenn es diese Fähigkeit noch hat.

Die Phantasie ist das größte Kapital des Menschen

In der heutigen Zeit ist der Mensch sehr individuell und bewusst, und es ist wichtig, dass er kreativ und selbstständig ist und nicht  darauf wartet, was andere für ihn tun oder dass sie ihm sagen, was er tun soll. Er muss sein Leben als »Material« ergreifen, es gestalten, seinem inneren Potenzial entsprechend. Das muss von klein auf geübt werden, am besten durch das künstlerische Tun.

Die Phantasie ist das größte Kapital des Menschen. Wie kann man sie fördern? Indem man die Fähigkeiten des Kindes zu erkennen, freizulegen und Begabungen zu öffnen versucht. Dazu bedarf es eines Menschen, der über die Fähigkeit des Mitfühlens verfügt, der mitfühlen kann, der den Kindern intuitiv ermöglicht, Zugang zum eigenen Seelischen zu finden – als eine Art Hebammen-Tätigkeit, um dem Selbst zur Erscheinung zu verhelfen, ihm dann beizustehen und es anzuregen.

Bei der konzentrierten Arbeit  gelangt das Kind in sich hinein. Wenn es in seinem Inneren angekommen ist, werden Gestaltungswille und Gestaltungskraft frei und können als Phantasiekraft eingreifen.

Das Kind ist beglückt, befriedigt, wenn ihm das gelingt. Es bekommt Selbstbewusstsein. Es stärkt das Kind, wenn es durch unsere Hilfe in diesem Prozess erfährt, was es kann, welche Kräfte in ihm sind und fühlt, wer es selbst ist.

Schauen wir nur auf die negative Seite, schwächen wir den Menschen und machen ihn mutlos. Zeigen wir ihm da­gegen seine Stärken, bekommt er Freude an sich, und Freude steigert das Lebensgefühl. Ich steigere die Kinder in ihrem So-Sein, in ihren Fähigkeiten.

Der Erwachsene darf das Kind nicht sich selbst überlassen. Er muss ihm immer beistehen, Anstoß geben und seine Kräfte anregen. Dann geht es von selbst weiter. Ausschlaggebend ist, dass es zur wirklichen Begegnung und Be­ziehung zwischen Kind und Erwachsenem kommt.

Das Zu-Sich-Kommen des Kindes ist zugleich ein Über-Sich-Hinausgehen zu seinem »höheren Ich«. Darin liegt ein Freiheitsmoment, das niemals aus Zweckgebundenem entstehen kann. Dieser Prozess des Sich-Ergreifens und Über-Sich-Hinauswachsens muss dem Menschen von klein auf ermöglicht und geübt werden. Denn die Seele entwickelt sich nicht durch sich selbst, sondern durch liebevolle persönliche Pflege – vom ersten Schultag, ja Lebenstag an.

Zur Autorin: Christiane von Königslöw war 20 Jahre lang Porträtfotografin, ehe sie Waldorfkindergärtnerin wurde – ihr Traumberuf. Sie baute die Tagesgruppe im Waldorfkindergarten Dortmund auf und leitete sie zehn Jahre. Dann gründete sie einen privaten Kindergarten im eigenen Haus und führte ihn 15 Jahre lang. Nach der Pensionierung hat sie in diesen Räumen einen »Mal- und Spielort« eingerichtet.

Literatur: Christiane von Königslöw: Der Engel – das bin ich. Die Spiritualität unserer Kinder im Spiegel ihrer Bilder und Aussprüche, Stuttgart 2006