Was ist Kunst? Zur Ästhetik Rudolf Steiners

Wolfgang-M. Auer

Kunstausstellungen haben gegenwärtig einen großen Zulauf. Im vergangenen Herbst war die große Schau von Bildern Botticellis in Frankfurt ein Publikumsmagnet. Im Winter zogen die Impressionisten in Wuppertal viele Be­sucher an. Gegenwärtig pilgert man zu der berühmten Sammlung klassischer Moderne des neu eröffneten

Museum Folkwang in Essen, um Bilder von Monet bis Paul Klee zu besichtigen. Das war zu Lebzeiten der Künstler noch anders. Die Impressionisten mussten ihre Bilder vor dem Publikum schützen. Die Leute waren über die Kleckserei derart erbost, dass sie mit den Regenschirmen auf die Bilder losgingen. Für Kunst hielten sie das nicht. Auch Kandinsky fand für seine ersten abstrakten Gemälde wenig Anerkennung. Selbst die Künstlervereinigung, deren Mitglied er war, weigerte sich, seine Bilder auszustellen.

Heute ist das alles selbstverständlicher Bestandteil unserer Kultur, ja sogar unseres Lebens. Es gibt in Bezug auf Kunst einen breiten Konsens, der auch lebende Maler wie Neo Rauch oder Gerhard Richter einschließt. Schwierig wird es aber für viele Betrachter immer noch, wenn ein Künstler die klassischen Kunstformen wie Malerei oder Skulptur verlässt, etwa bei Anish Kapoors Installation und Aktion mit dem blutroten Wachsblock oder bei den Farblicht­räumen von James Turrell. Und wenn wir im Museum in einen Raum kommen, wo scheinbar Gerümpel verteilt ist, ein alter Stuhl, ein Klumpen Talg, ein Eimer, ein Schrubber, ein Seil, dann fragen wir uns: Was soll das? Was hat das mit Kunst zu tun?

Kann eine Ästhetik von gestern Antworten auf die Fragen von heute geben?

Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet Rudolf Steiner eine Ästhetik entwickelt hat, die darauf eine Antwort gibt und die zugleich auch ein Licht des Verstehens auf all die anderen Beispiele wirft. 1888 hält Steiner in Wien einen Vortrag mit dem Titel »Goethe als Vater einer neuen Ästhetik«. Im Jahr darauf erscheint dieser Vortrag als kleine Schrift. Der auf den ersten Blick unscheinbare Aufsatz hat es in sich. Er enthält im Ansatz alles, was man braucht, um die Kunst des 20. und des 21. Jahrhunderts zu verstehen. Und das ist ja die Aufgabe, die sich die Ästhetik stellt: zu verstehen, was Kunst ist, welches Ziel und welche Aufgabe sie hat, kurz worum es bei der Kunst eigentlich geht.

Kunst ahmt nicht die Natur nach

Zunächst: Kunst gibt nicht wieder, was wir an anderer Stelle, zum Beispiel in der Natur, bereits wahrnehmen können. Nehmen wir eine naturgetreu gemalte Landschaft. Sie ist nicht einfach die Wiedergabe einer gesehenen Landschaft, selbst wenn sie vor der Landschaft gemalt wurde. Der Maler wählt einen Ausschnitt, und positioniert damit die Einzelheiten an bestimmte Stellen. Dadurch bekommen sie eine Wirkung, die sie in der Natur so nicht hatten. Das gilt auch für die Fotografie. Der Fotograf gestaltet das Bild durch den Ausschnitt, den Blickwinkel, die Beleuchtung, die er wählt, und lässt dadurch Aspekte hervortreten, die ohne seinen gestaltenden Eingriff dem Blick entgangen wären. Auch die Bilder der Impressionisten geben nichts wieder, was man in dieser Weise irgendwo außerhalb der Bilder sehen könnte. Denn der Eindruck einer ganz bestimmten Beleuchtung und Atmosphäre, den wir beim Betrachten impressionistischer Bilder haben, entsteht durch eine kunstvolle Kombination von Farbstrichen und -klecksen, die in der Natur so niemals vorhanden waren.

Kunst befreit – nur, was befreit sie?

Kunst gibt also nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar – wie es der Maler Paul Klee in seinem berühmten Ausspruch formuliert. Was aber macht die Kunst sichtbar – oder hörbar, tastbar? Die Antwort auf diese Frage ist entscheidend. Sie bildet auch den Kern der Steinerschen Ästhetik. Dabei wird unser Blick zunächst auf den Künstler und sein Material gelenkt. Der Künstler nimmt sein Material aus der Natur, von irgendeiner Stelle der Welt. In der Welt wird das Einzelne immer durch den Zusammenhang, die Umstände, die Nachbarschaft an seiner freien Entfaltung gehindert. Die Pflanzen zeigen das besonders deutlich. Eine Sonnenblume, die unter Bäumen, an einem schattigen, feuchten Standort wächst, wird große Blätter, aber eine kleine, blasse Blüte haben, während sich an einem sonnigen Standort eine Pflanze mit großer, prächtiger Blüte entwickelt. Die einzelne Sonnenblume ist nie die vollständige Verwirklichung ihres Wesens und all ihrer Möglichkeiten. Im einen Exemplar kommt dieser, im nächsten ein anderer Aspekt zum Zuge – ganz wie es die Umstände erlauben.

Wenn Vincent van Gogh aber Sonnenblumen malt, dann sind sie von dieser Einschränkung befreit. Dann kann er sie so gelb oder so strahlend malen, wie es nur geht, kann im leuchtenden Gelb, in der Strahlenform der Rosette, im Übergang vom Blühen zum Verwelken, etwas vom Wesen der Sonnenblume, von ihrer Idee offenbaren. In van Goghs Bildern ist die Sonnenblume nicht mehr Teil der Natur, nicht einem höheren Ganzen untergeordnet, sondern ein selbstständiges Wesen, das sich voll entfalten kann. Entsprechendes ließe sich von Franz Marcs Pferden, Hoppers Interieurs, Jawlenskys oder Julian Opies Gesichtern sagen. Im Kunstwerk ist das Objekt von den Einschränkungen, denen es in der Wirklichkeit unterliegt, befreit und kann unter der Hand des Künstlers sein Wesen entfalten. Daher kann selbst ein völlig unrealistisches Porträt mehr vom Wesen eines Menschen zeigen als ein Augenblick in der Realität.

Nicht nur die Gegenstände, auch die Materialien werden befreit

Nun gilt das nicht nur für das Objekt, sondern auch für die Elemente künstlerischer Darstellung, für Farbe und Form. Jede Form ist an tausend Blättern, Zweigen, Federn, Schneeverwehungen oder in den Spuren von Wasser und Wind zu finden. Sie ist von der nächsten begrenzt und dem Zusammenhang untergeordnet. Jede Farbe ist in der Wirklichkeit an einen Gegenstand, einen bestimmten Stoff gebunden und durch diesen eingeschränkt. Wir haben vielleicht einmal ein Himmelsblau erlebt, das wir wegen seiner Intensität und Schönheit nie mehr vergessen. Im nächsten Moment war es weg. Nun können wir diesem Blau zu dauerhafter Wirkung verhelfen, indem wir es als Himmel einer Landschaft malen. Oder wir können es in einer Farbkomposition so zu anderen, z.B. gelblichen und rötlichen Farbtönen in Beziehung setzen, dass es seine Wirkung entfalten kann. Wir können auch einen Raum ganz und gar mit diesem Blau ausmalen oder, wie etwa James Turrell, das Blau durch die Komposition von farbigem Licht entstehen lassen. So verschieden die Wege sein mögen – immer führen sie dazu, die Farbe von ihrer Bedingtheit, die ihr die Wirklichkeit auferlegt, zu befreien.

Kunst verleiht allem eine neue Bedeutung

Was bisher beschrieben wurde, gilt prinzipiell für jede Kunst und für jedes Mittel. Wenn Picasso in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts immer wieder Gesichter malt, bei denen Augen, Nase und Mund sich nicht mehr am natürlichen Ort befinden, dann handelt er hier nach dem gleichen Prinzip. Er reißt sie aus dem natürlichen Zusammenhang heraus, um besonders den Augen und ihrer Umgebung ihre eigene Wirkung zu geben. Dadurch ist er in der Lage, in seinem großen Werk Guernica und vielen Bildern der Jahre 1936/37, den Schmerz mit einer Intensität zum Ausdruck zu bringen, wie nie zuvor. Auch der Surrealismus arbeitet mit diesem Prinzip. Wenn Dali teigartige Uhren malt, die über Zweigen hängen und heruntertropfen, dann hat er beides, Uhr und Teig, aus dem realen Zusammenhang genommen, um in diesem Fall weniger mit Farbe und Form als mit den Bedeutungen dieser Dinge zu gestalten. Der Verlauf der Zeit bekommt eine andere, konkrete, humorvolle Bedeutung. Ähnlich ist es bei dem Denkmal, das vor dem Gebäude der Vereinten Nationen in New York steht: dem Revolver, dessen Lauf von einem Knoten verschlossen ist. Ein Revolver gehört in der Wirklichkeit in einen bestimmten Kontext, ebenso der Knoten. Wenn wir einen Luftballon zuknoten, verhindern wir, dass die Luft entweicht. Nun hat der Künstler beides aus dem Zusammenhang der Wirklichkeit genommen und neu zusammengefügt. Dabei hat er nicht nur die beiden Gegenstände miteinander verbunden, sondern zugleich ihre Bedeutungen, wodurch die Aussage entsteht: Schluss mit Krieg.

»Das kann ich doch auch«

Es ist konsequent, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Kunstform der Installation entstanden ist. Denn was man mit der Abbildung der Dinge machen kann, kann man auch mit den Dingen selbst tun. Bei der Installation werden reale Dinge aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang genommen und ihrer Aussage wegen neu zu­sammengefügt. Ein einfaches Beispiel: Wenn wir einen Stuhl sehen, an der Lehne eine Arbeitsjacke, auf dem Sitz ein alter Strohhut, vor dem Stuhl zwei abgetragene Stiefel – dann entsteht durch die Bedeutung der Dinge ein ganz bestimmtes Bild des Zusammenhangs, gewissermaßen eine Szene. Und wenn am Stuhl ein Spaten lehnt, wird es ein anderes Bild, als wenn sich vor dem Stuhl eine Staffelei befindet. Die Bedeutungen der einzelnen Teile und Materialien sind die Gestaltungsmittel, mit denen eine Installation komponiert wird. Installationen sehen aus wie ein Spiel, und daher reagieren viele Betrachter auch mit dem lockeren Ausspruch: Das kann ich auch. Wer aber schon Installa­tionen gemacht hat, weiß, dass es ein ernstes Spiel ist. Es bedarf derselben Präzision, wie wenn wir durch Farbe oder Form in einem Gemälde eine bestimmte Wirkung erzielen wollen. Wer Rebecca Horn bei der Konzeption ihrer Installationen beobachtet, kann sehen, wie diese Künstlerin um prägnante Aussagen ringt.

Installationen sind die letzte Konsequenz der Ästhetik

Rudolf Steiners, einer Ästhetik, die in der Kunst die Aufgabe sieht, das Wesen einer Sache zur Erscheinung zu bringen. Es gibt nur noch eine Steigerung: das Handeln selbst. Wenn wir pädagogisch, sozial und politisch so handeln, dass das Wesen der Sache erscheint und wirkt, dann handeln wir künstlerisch. Dann handeln wir nach demselben Prinzip wie der Maler, der das Wesen einer Sache wahrnehmbar werden lässt, indem er diese zum Gegenstand seiner künstlerischen Gestaltung macht.

Zum Autor: Dr. phil. Wolfgang-M. Auer, 30 Jahre Lehrer an der Rudolf-Steiner-Schule Bochum, federführend bei der Entwicklung des sogenannten Bochumer Modells, Dozent in der Aus- und Fortbildung von Waldorflehrern und Waldorferzieherinnen, Leitung des Waldorfkindergartenseminars Dortmund. Heute als Dozent an verschiedenen Orten im In- und Ausland tätig.