Pädagogische Antworten auf die Technisierung der Lebenswelt

Andreas Neider

Das Denken und der Ursprung der Technik

Die Entwicklung der Technik ist von Anfang an vom Denken des Menschen bestimmt gewesen. Sinn und Funktionsweisen eines technischen Gerätes, beispielsweise eines Autos, haben Menschen durch ihr Denken entwickelt. Darin unterscheidet sich die unsichtbare, digitale Technik nicht von der sichtbaren, analogen Technik. Es sind nur verschiedene Bereiche des Menschseins auf technische Geräte übertragen worden.

Zum Verständnis von Technik müssen wir uns also zunächst dem Ursprung aller Technik, dem menschlichen Denken zuwenden.

Die zwei Seiten des Ätherleibes und die Doppelnatur des Geistes

Das Denken beruht auf den Lebenskräften unseres Ätherleibes. Denkkräfte, so Rudolf Steiner, sind verwandelte Lebenskräfte.

Beim Eintritt ins Schulalter stehen die nicht mehr am körperlichen Wachstum beteiligten Lebenskräfte als »freie Kräfte« dem Denken zur Verfügung und können nun in den Vorstellungskräften, aber auch in jeglicher künstlerischen Tätigkeit schöpferisch aktiv werden.

Das Denken kann nun aber als »organisierender Geist« oder als »schöpferischer Geist« tätig werden. Als organisierender Geist wendet es sich quasi seinem Ursprung wieder zu, nämlich der Stoffeswelt. Dieses Denken bleibt an die Sinneserfahrung gebunden, durchdringt und organisiert diese aber so, dass daraus die Technik hervorgeht. Dabei lässt es sich zunächst von den leiblichen Bedürfnissen, zum Beispiel dem Bedürnis nach Bequemlichkeit lenken und erfindet entsprechende Hilfsmittel. Dem gegenüber befreit sich das schöpferische Denken zunächst vom Sinnlichen, kann aber seinerseits die Welt der Stoffe neu gestalten. Diese zwei Seiten des Geistes, wie sie an der Doppelnatur unseres Denkens sichtbar werden, kannte bereits Aristoteles, der zwischen dem tätigen, dem nous poietikos, und dem passiven Geist, dem nous pathetikos, unterschied.

Wodurch entstand nun die digitale Technik? Durch die Neurobiologie ist heute bekannt, was Steiner bereits 1911 entdeckt hatte, dass nämlich das menschliche Gehirn bei der Geburt weitgehend unstrukturiert ist. Das Denken tritt beim kleinen Kind nicht als solches in Erscheinung, sondern es bildet zunächst die Strukturen des Gehirns aus, dessen es sich später bedient, das heißt, es begleitet die Sinneserfahrungen mit der entsprechenden Strukturierung der dazu veranlagten Hirnregionen.

Bei der Entwicklung der ersten Computer stellte einer ihrer Pioniere, John von Neumann, lapidar fest: »Beim Entwurf der Maschine versuchten meine Mitarbeiter und ich einige der bekannten Vorgänge im lebenden Gehirn zu imitieren. Dieser Aspekt veranlasste mich, mich mit Neurologie zu beschäftigen … und ein stark vereinfachtes Modell des lebenden Gehirns für von Menschen zu bauende Maschinen zu kopieren.«

Der Computer ist also ein technisches Abbild des am Gehirn bildenden, organisierenden Geistes, der technisch verkörperte nous pathetikos. Der daraus hervorgehende, an die Sinne gebundene, organisierende Verstand hat sich mit der digitalen Technik ein Abbild seiner selbst geschaffen und kann dadurch sein an die Sinne gebundenes Denken und Vorstellen vervielfachen und in weiten Teilen sogar ersetzen. Was bedeutet dieses aber für die andere, die »freie« Seite der Denk- und Vorstellungskräfte, die Aristoteles als den nous poietikos bezeichnete?

Die Entwicklung der »freien Kräfte« in Spiel und Kunst

Das freie kindliche Spiel im fünften, sechsten Lebensjahr zeigt den schöpferischen Geist, wie er im Kind in dieser Lebensphase lebt, am schönsten. Es kann gemeinsam mit anderen seine gesamte Lebensumgebung, etwa die Einrichtung seines Zimmers, in sein Spiel integrieren. Alle Gegenstände der Sinneswelt folgen den frei schaffenden Phantasiekräften und verwandeln sich in Teile eines Schiffes, das über den Ozean fährt oder in Abteile eines Zuges, der nach Italien fährt. Das freie Spiel ist nicht an die Sinneswelt fixiert, sondern sie verwandelt frei.

Derselbe Vorgang kann auch bei jeder künstlerischen Tätigkeit beobachtet werden. Auch der Künstler klebt nicht an der Sinneswelt, sondern gestaltet diese frei um, verwendet, etwa in einer Installation, Gegenstände des Alltags, um sie in eine neue, freie Konstellation zu bringen oder lässt aus einem rohen Holzklotz eine vorher unsichtbare Gestalt hervorgehen.

Über- und Unternatur

Die skizzierten Beispiele zeigen, wie das Unsichtbare sich auf zweierlei Weise geltend macht. Im Künstlerischen und im freien Spiel geht das Kind, geht der Mensch über die Natur hinaus, nimmt sie lediglich als Ausgangspunkt für seine freie Gestaltung, in der sich der nous poietikos geltend macht.

In der digitalen Technik dagegen sinkt das Denken unter die Natur, in etwas Unsichtbares ab. Es schafft sich eine Technik, die eine Kopie seiner organisierenden, ans Sinnliche gebundenen Fähigkeit ist, die sich aber ebenso wie das Denken der Sichtbarkeit entzieht – der nous pathetikos in technischer Perfektion.

Rudolf Steiner schuf das Unterrichtsfach der Eurythmie nicht, um aus den Kindern Traumtänzer zu machen, sondern, um den immer stärker sich geltend machenden Kräften der unter die Natur herabsinkenden Technik ein Gegengewicht an die Seite zu stellen. Heutige Pädagogik sollte deshalb mehr und mehr darauf bedacht sein, Gegengewichte gegen die allgemein sich immer stärker geltend machenden zivilisatorischen Entwicklungen zu setzen. Und zwar nur durch die Eurythmie, sondern durch alle freien, zur künstlerischen Phantasie veranlagten Kräfte.

Kopfmensch und Gliedmaßenmensch

Der organisierende Intellekt bleibt passiv, weil er sich nicht über das Sinnliche erheben kann, sondern sich allein von diesem leiten lässt. In der Nutzung seines technischen Abbildes wird diese Tendenz verstärkt. Digitale Techniken entsprechen dem Kopfpol des Menschen, sie lassen den Benutzer erstarren bis hin zur Bewegungslosigkeit und Vergreisung.

Der aktive Geist, die Betätigung der freien Kräfte drängt zur Bewegung. Der sich seiner freien Kräfte bedienende Mensch will sich bewegen, will bewegen, nicht bewegt werden. Nicht umsonst beginnen heutzutage immer mehr Waldorfschulen in der ersten und zweiten Klasse ein bewegtes Klassenzimmer einzuführen. Das hängt nicht etwa mit der Hyperaktivität mancher Kinder zusammen, sondern es entspricht der Bewegungsnatur des Kindes.

Als Kopfmensch fühlt sich der Mensch abgeschlossen von der Welt, er steht ihr als Beobachter gegenüber. Als »Gliedmaßenmensch« dagegen fühlt er sich mit den Dingen, mit der Welt verbunden. Den Drang des Kindes oder des Jugendlichen, sich in der Welt zu betätigen, sollte man nicht im geschlossenen Klassenzimmer ersticken. Geben wir den Kindern die Welt wieder zurück, die wir ihnen auf dem Wege digitaler Technologien weggenommen haben!

Zum Autor: Andreas Neider gründete 2002 die Agentur »Von Mensch zu Mensch« und veranstaltet Bildungskongresse und anthroposophische Seminare. Seit 2007 publizistisch und als Vortragender tätig.

Literatur:

John von Neumann: Die Rechenmaschine und das Gehirn, München 1991 | Manfred Spitzer: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Heidelberg 2002 | Rudolf Steiner: Grundlegendes zu einer Erweiterung der Heilkunst, GA 27, Dornach 1993 | Rudolf Steiner, Die Philosophie des Thomas von Aquino, GA 74, Dornach 1993 | Rudolf Steiner: Ansprache vom 14. 3. 1915, in: Eurythmie. Die Offenbarung der sprechenden Seele, GA 277, Dornach 1999