Der gesellschaftliche Auftrag der Waldorfschulen

Henning Kullak-Ublick

Wo stehen die Waldorfschulen inmitten unserer gesellschaftlichen Entwicklung? Sind sie einfach einer von vielen Anbietern im Privatschulsektor? Bieten sie für die alternativ angehauchte Mittelschicht eine pädagogische Spielwiese mit »Lernen light«, ohne allzu viele Ecken und Kanten? Kann man hier seine Kinder vor den brennenden sozialen Fragen unserer Zeit in Sicherheit bringen?

Perspektivwechsel I: 1995 herrschte in Sierra Leone Bürgerkrieg. Unzählige Kinder wurden, oft unter Drogeneinfluss, zu den furchtbarsten Gräueltaten gezwungen. Damals begann Shannoh Kandoh in Freetown, wenigstens einige von ihnen aufzusammeln und zu unterrichten. 2000 durfte er eine Schule gründen, musste aber wegen steigender Mietpreise mehrmals umziehen, bis er 2009 in Rokel die Goderich Waldorf School gründen konnte, in der mit Hilfe von Alfred Barlatt seither immer ungefähr 60 Kinder kostenlos, also durch Spenden finanziert, unterrichtet werden.

Perspektivwechsel II: 1999 nahm im taiwanischen Lo Tung auf Initiative von Chuen Sue Chang die erste Waldorfschulklasse ihre Arbeit auf und wuchs bis heute mit 600 Kindern zur größten Waldorfschule Ostasiens heran. 2004 wurde der erste Waldorfkindergarten im chinesischen Cheng Du eröffnet. Zehn Jahre später gibt es in China 172 Kindergartengruppen, eine wachsende Anzahl von Schulen und vier mehrjährige Ausbildungskurse, Tendenz rapide steigend.

Perspektivwechsel III: In der malerischen Mittelmeerstadt Alanya begann 2013 die erste türkische Waldorfschulklasse mit dem Unterricht. Die Gründungsinitiative des Unternehmers Orhan Demirtas wird von der intellektuellen Elite der Stadt intensiv beobachtet, ein eigener Ausbildungsgang zum Waldorflehrer ist über die Kooperation einer ortsansässigen Hochschule mit dem Berliner Waldorflehrerseminar im Gespräch. Obwohl noch nichts gesichert ist, ist der starke Wille spürbar, hier eine zivilgesellschaftlich organisierte, pädagogische Entwicklung in Gang zu setzen.

Verschiedener können die politischen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen kaum sein, unter denen sich die beteiligten Eltern und Lehrer entschließen, eine pädago­gische Arbeit zu initiieren, die in krassem Gegensatz zu der existierenden Schulwirklichkeit ihrer Heimatländer steht. Weltweit gibt es heute weit über tausend Waldorfschulen und fast dreimal so viele Waldorfkindergärten, die immer aus solchen Initiativen einzelner Menschen hervorgegangen sind. Was ist das für ein Impuls, für dessen Verwirklichung die Menschen oft große Opfer bringen?

Das Beispiel Sierra Leones steht für viele Initiativen in Lateinamerika, Afrika oder Asien und zeigt, was dieser Impuls ganz sicher nicht ist, nämlich ein Rückzugsraum für sozial Privilegierte. »Privare« ist das lateinische Wort für rauben. Die Waldorfinitiativen in den Townships, Favelas oder Bürgerkriegsgebieten versuchen dagegen, den Kindern etwas zurückzugeben: ihre geraubte Kindheit. Sie stehen für gelebte Brüderlichkeit, genauer für Geschwisterlichkeit. Die rapide Ausbreitung der Waldorfpädagogik in vielen ostasiatischen Staaten, in denen die Kindheit nicht durch Hunger oder Gewaltexzesse, sondern durch rigorose Unterordnung, endlose Paukerei und die immer präsente Gefahr der Aussonderung bedroht wird, lässt einen zweiten Impuls sichtbar werden: die freie Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und die Sehnsucht nach Unabhängigkeit von staatlich oder ökonomisch induzierten Zwängen. Es geht um die Freiheit des Individuums. Blickt man schließlich auf eine zentrale Frage vieler Eltern in Deutschland, so ist es die nach echter Partizipation und Begegnung auf Augenhöhe in der Gestaltung des Schullebens.

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit

Was hier beispielhaft nebeneinander gestellt wurde, sind drei Grundimpulse, die sich in der Neuzeit mit der Entdeckung der Menschenrechte immer wieder neu Bahn zu brechen versuchen. Nicht ohne Grund findet man über dem Portal jedes französischen Rathauses bis heute die Losungsworte der französischen Revolution »Liberté, Égalité, Fraternité«. Dass es sich bei diesen Begriffen nicht um bloße Floskeln, sondern um konkrete Gestaltungsideen handelt, wird sofort sichtbar, wenn man sie auf die gesellschaftliche Wirklichkeit bezieht:

  • Freiheit ist die Voraussetzung für jede individuelle Entwicklung und damit zugleich der Quellort für jeglichen gesellschaftlichen Fortschritt.
  • Gleichheit ist die Grundsignatur einer auf Partizipation gegründeten Zivilgesellschaft, in der nicht mehr die »Obrigkeit« die Richtung vorgibt, sondern die betroffenen Menschen selbst.
  • Brüderlichkeit – oder etwas nüchterner: assoziative Zu­sammenarbeit – ist die Voraussetzung für ein an den Bedürfnissen der Menschen orientiertes Wirtschaftsleben, in dem sich unternehmerische Initiative und soziale Verantwortung nicht ausschließen, sondern wechselseitig befruchten.

Wozu die Ignoranz gegenüber diesen Idealen führt, zeigt sich an den globalen Krankheitssymptomen unserer Gesellschaften, mit denen die heranwachsenden Generationen zurecht kommen müssen: Sie reichen von dem rapide wachsenden Sucht- und Konsumverhalten in den »zivilisierten« Gesellschaften – dem Zerrbild der »Freiheit« – über die fundamentalistischen oder totalitären Gesellschaftsordnungen – dem Zerrbild der »Gleichheit« – bis zu der Ausbeutung der Bevölkerung und der Natur durch die »Zwänge« global agierender Finanzjongleure – dem Zerrbild der »Brüderlichkeit«. Rudolf Steiner betrachtete die Ideale der Franzö­sischen Revolution nicht als Leerformeln, sondern als Ordnungsprinzipien des gesellschaftlichen Lebens: Die Freiheit gehöre ebenso notwendig dem geistigen oder kulturellen Leben an, wie sich das Rechts- oder politische Leben auf die Gleichheit aller Menschen gründe. Die Brüderlichkeit wiederum sei längst Teil des arbeitsteiligen Wirtschafts­lebens, das nur noch assoziativ funktioniere, aber immer noch wie eine Tauschwirtschaft behandelt werde.

Die Schattenseite der Intelligenz

Die erste Waldorfschule ging folgerichtig aus einer Kampagne für die »Dreigliederung des sozialen Organismus« hervor, bei der Steiner unter anderem die Unabhängigkeit des Bildungswesens von staatlichen oder ökonomischen Interessen forderte. An Stelle einer auf gesellschaftlichen Konventionen basierenden Erziehung setzte er die Erneuerungskraft, die dieser Gesellschaft durch frei sich entwickelnde Individualitäten zufließt. Die Schule sollte zu einem Ort werden, an dem junge Menschen sich ebenso lebenspraktisch wie phantasievoll entwickeln können.

Unmittelbar vor Beginn seines berühmten Kurses für das erste Lehrerkollegium hielt Steiner im August 1919 eine Vortragsreihe mit dem Titel »Die Erziehungsfrage als soziale Frage«. Darin schilderte er, welche Fähigkeiten Menschen brauchen, um überhaupt aktiv an der gesellschaftlichen Wirklichkeit teilnehmen zu können. Vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen, die die Menschheit seit damals durchgemacht hat, und im Wissen um die ungelösten Probleme unserer Zeit erscheinen diese Vorträge aktueller denn je. Aus dem riesigen Bogen, den Steiner damals spannte, möchte ich ein Motiv herausgreifen: Die Entwicklung der Intelligenz von der Antike bis zur Neuzeit.

Während die Menschen in vorgeschichtlicher Zeit eine unmittelbare Beziehung zum Lebendigen hatten, das sich ihnen in einem mit den Erscheinungen verwobenen bildhaften Bewusstsein offenbarte, entstand in der griechischen Antike das gegenständliche Denken, mit dem sich der Mensch der Natur und den »Göttern« gegenüberstellte. In der Neuzeit entwickelte sich die Intelligenz bis zum operativen Erfassen des Toten, das einerseits den enormen Fortschritt in der technischen Beherrschung der Welt bewirkte, andererseits die Trennung von Kunst, Wissenschaft und Religion in voneinander unabhängige Regionen. Damit ist die Entwicklung der »Intelligenz« aber noch nicht zu Ende. Im 20. Jahrhundert wird sie laut Steiner allmählich zum zweischneidigen Schwert: Sie kann entweder durch aktive seelische Arbeit zum erneuten Erfassen lebendiger Zusammenhänge erzogen werden oder die Neigung zum »Bösen« entwickeln. Ich möchte es jedem selbst überlassen, manche Entwicklungen in unserer Zeit daraufhin zu überprüfen.

Die soziale Bedeutung von Autorität und Liebe

Statt nun allerdings moralische Grundsätze für die Lehrer oder Schüler aufzustellen, ging Steiner nüchtern auf die Frage ein, welche Kräfte ein junger Mensch ausbilden muss, um als Erwachsener seine Entwicklung selbst in die Hand nehmen zu können.

Während sich die Kinder in den ersten Lebensjahren durch angeborene Hingabekräfte unmittelbar mit der Welt verbinden, bereiten sie sich darauf vor, als Jugendliche mit ihrem denkenden Bewusstsein in die Welt einzudringen und selbstständig Zusammenhänge herzustellen. Deshalb empfahl Steiner den Eltern und Erziehern dringend, eine Umgebung für die Kinder zu schaffen, in der alles nachahmenswert ist, und zwar nicht nur in der äußeren Umgebung, sondern auch in den Gedanken, Gewohnheiten und Gefühlen der Erwachsenen, welche die Kinder umgeben. Der Mangel an nachahmenswerter Kultur in diesem Alter führe zu einer »Animalisierung der Leiber«, die sich auf das gesamte weitere Leben auswirke.

Später entsteht das Bedürfnis, die Welt in Anlehnung an Menschen zu erfahren, denen die Kinder vertrauen und zu denen sie wegen ihrer Urteilsreife und seelischen Beweglichkeit aufblicken können. Aus diesem Aufblicken – Goethe sprach im »Wilhelm Meister« von den »drei Ehrfurchten«, die gegenüber dem, was über uns, neben uns und unter uns ist, entwickelt werden sollten – entsteht der Blick für die Würde jedes einzelnen Menschen, die notwendige Voraussetzung dazu, Gleichheit überhaupt denken zu können. Die Sehnsucht nach einer »geliebten«, weil dieser Liebe würdigen, Autorität ist die Grundlage des Rechtsempfindens und einer demokratischen Kultur. Das negative Gegenbild ist eine allgemeine Kulturschläfrigkeit, eine »Vegetabilisierung der Seelen«.

Die Zeit zwischen Pubertät und Mündigkeit beschrieb Steiner als Lebensalter, in dem sich das Interesse an der Welt und an den anderen Menschen aus der allgemeinen Menschenliebe herausentwickelt. Deshalb kommt in diesem Alter alles darauf an, dass die jungen Menschen in der Schule und ihrer Umgebung diese »umfassendste Liebe zur äußeren Welt« entwickeln können, also ein tiefes, individuell errungenes Interesse am anderen Menschen und an der Zeit, in der sie leben. Nur aus solchen Erfahrungen können die jungen Menschen einen Sinn für Brüderlichkeit im Umgang miteinander entwickeln. Allgemeine Menschenliebe wird zum Impuls der Brüderlichkeit. Kurz gesagt:

  • Echte Nachahmung in der frühen Kindheit wird zur erkennenden Grundlage der Freiheit.
  • Die Erfahrung berechtigter Autorität im zweiten Jahrsiebt führt zum Verständnis der Würde jedes einzelnen Menschen.
  • Die umfassende Liebe zur Welt im dritten Jahrsiebt führt durch das Erlebnis sozialer Verantwortung zum Verstehen wirtschaftlicher Prozesse.

Krisen sind Entwicklungschancen

Die eingangs gestellten kritischen Fragen spiegeln einiges von dem wider, was heute oft mit Waldorfschulen assoziiert wird, jedenfalls in Deutschland. Wer die Waldorfschulen besser kennt, weiß, dass es darum nicht geht und noch nie gegangen ist.

Trotzdem müssen sie sich die Frage stellen, warum sie in dieser Ecke gelandet sind und ob sie sich dort vielleicht wohler fühlen, als es ihrem Anspruch entspricht.

Eigentlich sind die Waldorfschulen ein groß angelegter Versuch, die Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit im Zusammenwirken von Eltern, Lehrern und Schülern zu verwirklichen. Das können wir allesamt noch nicht besonders gut. Deshalb entstehen immer wieder Krisen und in ihrem Gefolge Sehnsüchte nach einer autoritären Schulführung oder nach verbindlichen Standards. Wie in jeder Krise liegt darin aber auch die Chance zur Entwicklung. Als Zeitgenossen kommen wir nicht umhin, an der Entwicklung der Kräfte zu arbeiten, die die Kinder und Jugendlichen zunächst an uns erleben müssen, um sie im späteren Leben aus eigener Kraft zur Verfügung zu haben.

Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind keine verstaubten Ideale aus vergangenen Epochen, sondern Gestaltungsideen für die globalen Aufgaben unserer Zeit. Sie müssen im Kleinen geübt werden, um im Großen zu funktionieren.

Deshalb sind Waldorfschulen keine Privatschulen.

Der Abgeordnete Pauer aus Neiße rief während der Paulskirchenversammlung im Jahr 1848 den Parlamentariern zu: »Wenn Sie die Freiheit des Volkes wollen, dann gründen Sie freie Schulen!« Es wird Zeit, wieder auf ihn zu hören. Bündnispartner gibt es auf der ganzen Welt.

Zum Autor: Henning Kullak-Ublick ist Leiter der Öffentlichkeitsarbeit im Bund der Freien Waldorfschulen und Mitglied des Bundesvorstandes. Im März erschien sein Buch Jedes Kind ein Könner. Fragen und Antworten zur Waldorfpädagogik.

Link: www.freunde-waldorf.de