Der Himmel rumort

Michael Birnthaler

Zuerst die gute Nachricht: Laut Polizeistatistik hat die Zahl der kriminellen Taten in den letzten zehn Jahren um 20 Prozent abgenommen. Es gibt weniger Schwerverbrechen, Morde, Raub und Sexualdelikte. Deutschland ist sicherer geworden. Die schlechte Nachricht: Die Jugendgewalt ist im selben Zeitraum um 400 Prozent angestiegen. Jeder fünfte 15-Jährige hat bereits einmal jemanden so verprügelt, dass er ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. In wohl keinem anderen sozialen Bereich gibt es mehr Präventionsprogramme: Konfrontative Pädagogik, Glen Mills-Pädagogik, Anti-Aggressions-Training, AGT, Heißer Stuhl, anteilnehmende, aufsuchende, akzeptierende Ansätze, Anomie-Konzepte, Bootcamps … Man könnte annehmen, dass die Sozial- pädagogik das Thema Gewalt im Griff habe. Weit gefehlt. Aus Metastudien über deren Wirksamkeit wurden Ergebnisse bekannt, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen können. Von 160 untersuchten Gewaltpräventionsprogrammen ist nur ein winziger Bruchteil wirksam: ganze elf.

Woran mag das liegen? Es scheint, als ob die Basisphilosophie über die Gewalt, die scheinbar all den Programmen zugrunde liegt, Wesentliches nicht berücksichtigt hat. Vergegenwärtigen wir uns die klassischen Theorien über Aggression und Gewalt: Instinkte (Lorenz), Triebe (Freud), Milieu (Skinner), Frustration-Aggression (Dollard) oder das Modelllernen (Bandura). Bei näherem Hinsehen fällt auf: Es sind alles »Drucktheorien«. Der Dampfkessel der Triebe enthält zu viel Druck, dann kommt es zur (gewaltförmigen) Explosion. Der Druck der Gesellschaft auf das Individuum ist so gewaltig, dass das Individuum »zurückschlägt«. Durch die Menge der Frustrationen entsteht innerseelisch ein Druckverhältnis, das irgendwann in Aggressionen überschlägt. Druck erzeugt Gegendruck. Bei Ansprachen vor jungen Menschen kam Rudolf Steiner einmal überraschend auf die Ursachen der Gewalt zu sprechen. Im Gegensatz zu den verbreiteten Theorien erklärte er, dass es eben gerade nicht der Druck ist, der zu Gewalt führt. Im Gegenteil. Gewalt sei primär kein Druck-, sondern ein Saugphänomen. Gewalt entstehe immer dann, wenn im Inneren des Menschen ein Vakuum herrsche. Die seelische Leere führe dazu, dass es zu psychischen Prozessen der Implosion und des Kollabierens komme.

Erst seit den 1950er Jahren haben Wissenschaft und Psychologie erkannt, dass dieser Faktor von entscheidender Bedeutung für die Entstehung von Gewalt ist. Forscher wie Frankl, Galtung, Sutterlüty und Heitmeyer haben herausgefunden, dass die innere Leere, das Gefühl der Ohnmacht, der Sinn- und Perspektivlosigkeit wesentlich für die Auslösung von Gewalt sind. »Tödliche Langeweile« bedeutet Alarmstufe Rot. Eine Studie an der Universität zu Köln bestätigt, dass der Faktor »Langeweile« zu den stärksten auslösenden Faktoren für Aggressionen gehört und an Haupt- und Gesamtschulen sogar der stärkste Faktor ist.

Bilderhunger und Ernährung durch Bilder

Doch wie kommt die innere Leere zustande? In einem Vortrag über soziale Gestaltungen erklärt Steiner: »Und jetzt beginnt – und darinnen liegt vielfach der Grund für das Stürmische unserer Zeit –, jetzt beginnt die Zeit, in welcher die Seelen aus der geistigen Welt, indem sie durch die Empfängnis und die Geburt zum irdischen Leben heruntersteigen, sich Bilder mitbringen. Bilder, wenn sie mitgebracht werden aus dem geistigen Leben in dieses physische Leben herein, müssen unter allen Umständen, wenn Heil für den Menschen und für sein soziales Leben entstehen soll, unbedingt sich mit dem astralischen Leib (dem Seelischen; d.A.) verbinden …« Anschließend beschreibt er, dass es in der modernen Welt vielfache Gegenkräfte gibt, die verhindern, dass das Bildhafte, Phantasievolle, Erlebnishafte in die Seelen der jungen Menschen einzieht. »Die Nüchternheit … der neueren Zeit ist ja ein Grundcharakterzug, und es gibt heute sogar breite Strömungen, die sich dagegen wehren, dass man durch die Erziehung schon dafür sorgt, dass dasjenige, was aus der Seele aufsteigen und im astralischen Leib sich geltend machen will, auch wirklich zur Geltung kommt. Es gibt trockene Nüchterlinge, welche die Erziehung durch Märchen, Legenden, durch das, was von der Phantasie durchstrahlt ist, eigentlich ausschließen möchten.«

Doch was geschieht, wenn »trockene Nüchterlinge«, wenn verkopfte Lehrer an unseren Schulen es schaffen, zu verhindern, dass die lebendigen inneren Bilder aus den Tiefen der Seelen der Kinder wieder aufsteigen? Davor warnt Steiner mit eindringlichen Worten: » … das Kind hat in seinem Leibe Kräfte sitzen, welche es zersprengen, wenn sie nicht heraufgeholt werden in bildhafter Darstellung. Und was ist die Folge? Verloren gehen diese Kräfte nicht; sie breiten sich aus, sie gewinnen Dasein, sie treten doch in die Gedanken, in die Gefühle, in die Willensimpulse hinein. Und was entstehen daraus für Menschen? Rebellen, Revolutionäre, unzufriedene Menschen (…) Wenn heute die Welt revoltiert, da ist es der Himmel, der revoltiert, das heißt der Himmel, der zurückgehalten wird in den Seelen der Menschen, und der dann nicht in seiner eigenen Gestalt, sondern in seinem Gegenteile zum Vorschein kommt, der in Kampf und Blut zum Vorschein kommt, statt in Imaginationen.« Ausdruck für diesen inneren Bilderhunger, von dem Steiner vor 100 Jahren sprach, ist der heutige Hunger nach bewegten Bildern, Filmen, interaktiven Abenteuern in der virtuellen medialen Welt. Ursprünglich ist dies die Sehnsucht nach »Ernährung« durch und Anschluss an gute und wahre Bilder – »designed by heaven«.

Millionen von jungen Menschen sind heute in den Bann der medialen Erlebniswelt gezogen. Dem Hunger nach Erlebnis, Action und Spaß wird allerdings nur virtuelles Fast Food geboten. Es stillt nur scheinbar den Hunger. Um keine »tödliche Langeweile« aufkommen zu lassen, wird mit ihnen Zeit totgeschlagen. Dennoch, im Spiegel der virtuellen Welten kann erstaunlich fein abgelesen werden, welche geistigen Bilder und Erlebnisformen heute »abgezapft« werden. Die herkulische Aufgabe der Pädagogik der Gegenwart ist es, den äußeren gewaltig saugenden Bilder- und Erlebnisstrom, der die seelischen Reservoirs unserer heutigen jungen Generation vertrocknen lässt, umzulenken zu realen, kraftvollen und vitalisierenden inneren Bilder- und Erlebniswelten. Vielleicht ist auch dies ein Grund, warum Steiner nicht müde wurde, das Ruder an der Waldorfschule in Richtung auf das Künstlerisch-Erlebnishafte herumzureißen. Er legte den Lehrern sogar ans Herz, eine eigene Jugendgruppe aufzubauen. Es scheint ihm bewusst gewesen zu sein, dass der Hunger nach Bildern und Erlebnissen im regulären Unterricht nicht ausreichend befriedigt werden könne. Vielleicht »funktionieren« Gewaltpräventionsprogramme deshalb nicht, weil sie diesen inneren Hunger nicht wirklich befriedigen. Es braucht »Programme«, die unseren Heranwachsenden Bilder und Erlebnisse mitgeben, die durch die »Kraft des Imaginativ-Himmlischen« in den seelischen Untergründen der jungen Menschen eine tiefe »Be-Friedigung« bewirken könnten. Kurt Hahn, der Begründer der Erlebnispädagogik, formulierte: »Es ist Vergewaltigung, Kinder in Meinungen zu zwingen. Aber es ist Verwahrlosung, Kindern Erlebnisse vorzuenthalten, durch die sie ihres eigenen Wesens gewahr werden können.«

Zum Autor: Dr. Michael Birnthaler, Waldorflehrer, Gründer und Leiter von EOS-Erlebnispädagogik (www.eos-ep.de; Ferienlager, Klassenfahrten), EOS-Freiwilligendienste (www.eos-fsj.de), Tagungszentrum Allerheiligen am Nationalpark Schwarzwald (www.eos-allerheiligen)

Literatur: M. Eisner/D. Ribeaud: Frühprävention von Gewalt und Aggression, Zürich 2008; R. Steiner: Geisteswissenschaft als Erkenntnis der Grundimpulse sozialer Gestaltung, Dornach 1985; ders.:Geisteswissenschaft als Erkenntnis der Grundimpulse sozialer Gestaltung, GA 199 (11.9.1920); ders.: Konferenzen mit den Lehrern der Freien Waldorfschule in Stuttgart, GA 300 b

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