Wenn Mutter zu Mut her mutiert. Vom spielerischen Umgang mit Zeichen und Worten

Anna Ribeau

»Ich habe ein F gefunden!«, ruft ein Kind aufgeregt und kommt mit einem Ast angerannt, der bei näherem Hinsehen tatsächlich die Form des Buchstabens aufweist. »Das Feld ist voller Is!«, spricht ein Kind nachdenklich in der Picknickpause der Radtour zur verwundert dreinschauenden Mutter. Den Blick von Tafel oder Blatt in deren Umgebung schweifen zu lassen, zu schauen, was sich dort für unzählige Formen, Gesten und Zeichen unter dem unbefangenen Blick auftun, bringt Schülern nicht nur Freude. Es schult das Auge dafür, dass die Welt tatsächlich Auserlesenes für uns bereithält, wenn wir uns auf den Weg machen, es aufzulesen. Es bedarf keiner Schulbücher, wenn die Welt selbst zum Buch wird, das von Zeichen und Formen nur so wimmelt. Auch der Löwe, der in der Wolke zum Vorschein kommt, ist natürlich nicht außer Acht zu lassen, ebensowenig die Spuren des Rehs auf dem Boden. »Ich schaue in die Welt« – was da alles zu Tage tritt! Der Lehrer hätte zuvor nicht gedacht, dass der Tunnel auf dem Schulspielplatz sich wie ein »O« in der Landschaft ausnimmt – eben aus dieser bestimmten Perspektive betrachtet. Das hat er so noch gar nicht gesehen. Nebenbei hört er, wie ein Kind, das einen Stein in der Hand hält, zum anderen sagt: »Hier, der trägt als Maserung den Anfangsbuchstaben deines Namens!« Das sind nur einige Szenen, die sich abspielen, wenn der Pädagoge die Kinder ermutigt, Buchstaben in der Welt ausfindig zu machen, in die sie »hineingeheimnist« sind.

Das Schmetterlingsalphabet

Die Geschichte vom Schmetterlingsalphabet des Fotographen Kjell B. Sandved ist für diese Zeichensuche exemplarisch und auch für die Unterstufe anregend. Der Norweger arbeitete 25 Jahre daran, an einem ungewöhnlichen Ort – nämlich den Flügeln von Schmetterlingen – nach Sprachzeichen zu suchen. Alles begann mit dem F, das er eines Tages auf einem Mottenflügel ausfindig machte. Die Entdeckung regte ihn dazu an, auf der ganzen Welt auf den zarten Flügeln dieser »vom Kosmos befreiten Pflanze« (Steiner) die Reihe des Alphabets zu suchen. Dem Beachtung zu schenken, dient der Ermunterung, den unbefangenen, findenden Blick zu kultivieren, der sich nicht mit vorgefertigten, gestanzten Zeichen zufrieden gibt, sondern seine eigenen Zeichenreihen zu legen wagt. Von diesem Reihenbilden spricht schon Novalis. Reihen lassen sich auf mannigfaltige Weise legen, das Schmetterlingsalphabet ist eine Möglichkeit davon. Was Thema, Form, Material, Farbe oder Größe betrifft, sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt.

Die spielerische Art des Zeichenfindens wirkt bei der Einführung der Buchstaben in der Unterstufe einer Art Sprachschreck entgegen. Die Seele des Kindes kann einen Schreck erleiden, wenn sie mit abstrakten Zahlen und Figuren konfrontiert wird. Das Wort »Baum« besteht aus vier Sprachzeichen. Es ist eine Abstraktionsleistung, Form und Inhalt zusammenzubringen. Der Baum ist etwas, dessen Äpfel das Kind gegessen hat, worauf es geklettert ist, dessen wärmende Kraft es am Kaminfeuer zu spüren bekam. Das Kind kann sich mit den Buchstaben erst einmal anfreunden lernen, wenn wir ihm die Gelegenheit geben, ihnen auch am Wegesrand zu begegnen, beispielsweise eben im Geäst der Buche und nicht bloß im Buch. Die Seele des Kindes wird so auch als »Sehle« angesprochen: die sieht. Und zwar nicht nur auf der Fläche von Blatt und Tafel, sondern auch in der Welt, in schrittweiser Abstraktion und künstlerischer Annäherung an die Form.

Sprechen in Gemeinschaft

Eine Betrachtung chladnischer Klangfiguren, die Schüler relativ unkompliziert selbst hervorrufen können (mit Sand und Geigenbogen), zeigt, welche Formen und Figuren der Klang entstehen lässt. Wobei die Betrachtung der wunderbaren Schneeflockenformen wiederum jahreszeitenabhängig ist: Der amerikanische Fotograph Wilson Bentley hat faszinierende Bildbände herausgebracht, die den Blick für diese Formenwunder schulen. Die gesprochene Sprache ist von Natur aus vergänglich und unsichtbar. Eurythmie sucht sie sichtbar zu machen und das gemeinschaftliche Sprechen – beispielsweise eines Schiller-Gedichts – kann nachdrücklich wirken. Dabei geht es um das Sprechen um des Sprechen willens, nicht darum, Sprüche für die nächste Monatsfeier auswendig zu lernen. Sprache im Sprechchor in der künstlerischen Form eines Gedichts gesprochen, nicht verstandesmäßig als Hausaufgabe antrainiert, sondern durch die gemeinsame Sprachbewegung in der Gemeinschaft gestaltet, ist die massierende Vibration lebendiger Wörter.

Alte Formen neu entdecken

Auch die der Unterstufe Entwachsenen dürfen sich unbefangen auf Zeichensuche begeben: im Wort und seinen Sprachzeichen. Lauscht man nur, lässt es sich von vorgegebenem Sinn befreien. Aus »Mutter« wird plötzlich das »Mut her!«. Aus »Gedanken« wird »geh Danken!« Alte Formen aufzulösen, um sie wieder neu in Form zu bringen, heißt, beweglich zu bleiben. Beweglichkeit kann erübt werden, wenn wir dazu ermutigen, auf unkonventionelle Zeichensuche zu gehen. Was geschieht, wenn ich die NOT umdrehe? Sie wird zum TON und der WOLF, andersherum betrachtet, zum FLOW.

Der Satz »Ich bin vollkommen am Ende« bekommt beim Spiel einen anderen Sinn »Am Ende bin ich vollkommen.« Oder ein Wort unter die Lupe nehmen: Woraus besteht eigentlich das Wort »Verantwortung«? Die »Antwort« kommt darin zum Vorschein. Außergewöhnliches ausfindig zu machen, Neues im Werk aufzulesen, Formen zu befreien, um sie in neue zu gießen, dient dazu, Geschichten, Worte, Texte zu belauschen und sie unbefangen für sich sprechen zu lassen. Für Gedichtinterpretationen und Auseinandersetzungen mit Stoffen wie Parzival und Faust, kommt es ja dann darauf an, Entdecker zu werden. Der spielerische und unbefangene Blick in die Welt, die so angeschaut zu sprechen beginnt, bringt es mit sich, dass wir uns von unkünstlerischen Bewertungen eines »Richtig« und »Falsch« entfernen, hin zu einem ästhetisch-goetheanistischen Blick auf das Phänomen. Das Richtig wird durch das Spiel zum »Richt-Ich« (meine Aufmerksamkeit auf etwas). Es ist nicht falsch, dass dort plötzlich ein großes »O« auf dem Spielplatz auftaucht. Es ist ein Phänomen, das in mein Sehfeld rückt. Es ist auch nicht falsch, dass der Ast ein »E« darstellt, wenn es vom Baum auch nicht sehr ordentlich gestaltet wurde. Am Ende ist es auch nicht falsch, sondern ebenso naheliegend, dass das Gedicht die Aufforderung »geh dicht« beinhaltet. Es führt bis dahin, dass auch der vermeint­liche falsche »Stirbelwurm« als Wort – geboren aus einer kindlichen Verfremdung von »Wirbelsturm« – letztlich ein Stirbelwurm bleiben darf, ohne dass seine Eigen-art sofort mit seiner Entdeckung wieder ausgelöscht, weil korrigiert werden muss. Als Pädagogen mögen wir vielmehr dazu aufgerufen sein, den Entdeckungen am Wegesrand einen Platz einzuräumen – zu zeigen, dass wir erwachsen und erwachen für das neue, fremde, unbekannte Sprachzeichen.

Den Zeichen im Buch des Lebens sind keine künstlichen Grenzen gesetzt. Die Zeichen setzen sich vielmehr selbst in unseren Weg und warten darauf, dass wir sie entdecken und mit ihnen spielen.

Zur Autorin: Anna Ribeau war Waldorfschülerin, studierte Literatur- und Sprachwissenschaft, ist Mutter von vier Kindern und arbeitet heute als Dichterin.

www.geh-dicht.info