Leibergreifend. Förderunterricht auf menschenkundlicher Grundlage

Beate Schram

Ich werde wohl lange die Begegnung mit einem Erstklässler nicht vergessen, der mir, kurz nach seiner Einschulung, auf dem leeren Flur unserer Schule entgegenkam und mich fragte: »Was machst Du eigentlich hier?« Die Eindringlichkeit seiner Frage ließ mich noch lange nach einer Antwort suchen.

Die Individualität der Kinder, die möglicherweise durch zivilisatorische Einflüsse oder manch leidvolle Erfahrung früh geweckt wurde, findet einen Körper vor, der sie nur bedingt aufnehmen kann. Denn im Körperlichen begegnen uns selbst die gesunden, als schulreif geltenden Kinder einer Waldorfschule oftmals durchsichtig, hüllenlos, teilweise ungelenk, verkrampft und mit ihrem Leib und dessen Bewegungsapparat ringend. Wenn wir den Hinweis Rudolf Steiners ernst nehmen, dass das Kind ganz Sinnesorgan ist, dann können wir davon ausgehen, dass das Kind all den Umwelteinflüssen ohne eine Möglichkeit der Abgrenzung ausgesetzt ist und dass deren Auswirkungen hauptsächlich im Leiblichen, im Muskelsystem sowie in der Organbildung, bleibende Spuren hinterlassen. Die gesunde Inkarnation in den Leib ist dadurch umkämpft. Die eigentliche Aufgabe, in den ersten sieben Lebensjahren Geistig-Seelisches mit dem ererbten Leib möglichst harmonisch zu verbinden, scheint erschwert. Das Kind steht vor uns mit der Frage: Wie kann ich meinen Leib ergreifen?

Wahrnehmen und Begleiten

Als Waldorflehrer wissen wir, dass die von uns praktizierte Waldorfpädagogik heilende Wirkungen in sich trägt. Trotzdem wird der Ruf nach inner- oder außerschulischer therapeutischer Unterstützung immer lauter. In welcher Weise können Förderlehrer dazu beitragen, die Situation der Kinder, die Hilfe brauchen, zu verbessern?

Das Kernstück meiner förderpädagogischen Tätigkeit ist in den letzten Jahren die Zweitklassuntersuchung geworden. An niederländischen Waldorfschulen in den 1980er Jahren entwickelt, ermöglicht sie dem Förderlehrer, sich ein umfassendes Bild des einzelnen Kindes zu machen. Dabei ist der sensomotorische Status, der Blick auf die Entwicklung des Sinnes- und Bewegungsapparates, als Schwerpunkt zu sehen. Wichtig ist mir dabei, jedes Kind der Klasse anzuschauen, nicht nur die »schwierigen«, denn auch manch »braves« Kind, das nie auffällt, braucht gelegentlich Unterstützung und vor allem unsere Aufmerksamkeit. Anschließend an die Untersuchung wird jedes Kind mit dem Klassenlehrer besprochen und zusätzlich mit den Eltern, falls Therapieempfehlungen ausgesprochen werden. Die positive Wirkung solcher intensiven Gespräche auf das Kind ist immer wieder deutlich wahrzunehmen; auch wird das Vertrauensverhältnis zwischen Klassenlehrer und Förderlehrer gestärkt und die weitere Zusammenarbeit ermöglicht.

Ob es um Verhaltensauffälligkeiten oder Lernschwierigkeiten geht – oftmals verschaffen kleine Maßnahmen wie eine Veränderung der Sitzposition oder auch des Sitzplatzes Erleichterung. Wenn ein Zappelphilipp in der Klasse den Lehrer an seine Grenzen bringt, mag die Erklärung des Förderlehrers, warum dieses Kind sich auf Grund seiner Leiblichkeit nicht anders verhalten kann, für Entspannung sorgen. Übungen aus dem Förderbereich, die auch mit der ganzen Klasse durchgeführt werden können, werden oft dankbar entgegengenommen. Ebenso können didaktische Elemente aus dem Förderunterricht ergänzend im Klassenunterricht eingesetzt werden und Hilfen zur Differenzierung anbieten.

So kann der Förderlehrer wahrnehmend und begleitend den Kindern und den Klassenlehrern zur Seite stehen und dabei der allzu starken Forderung nach Einzelförderung entgegenwirken. Idealerweise steht er dabei im Kontakt mit den anderen Therapeuten der Schule. Für die Einzelarbeit kommen nicht nur verhaltensauffällige oder lernschwache Kinder in Betracht. Alle Schüler, bei denen eine Disharmonie vorliegt, profitieren von dieser Maßnahme. Wenn zum Beispiel ein Kind wach aufnimmt und schnell reagiert, dabei aber der mittlere Bereich, der Bereich des Atmens und des Verstehens, zu kurz zu kommen scheint, oder wenn der Kopfpol so dominiert, dass der Willenspol zu schwach wirkt, ist Unterstützung sinnvoll. Mit dem Einzelunterricht betritt das Kind einen Raum, der nicht von Leistungsanforderung oder Erwartung, einzig von der Aufmerksamkeit geprägt ist, die der Lehrer dem Kind schenkt.

Lernvoraussetzungen schaffen

Stellvertretend für die unterschiedlichen Möglichkeiten einer Einzelförderung möchte ich auf das Konzept der Extrastunde eingehen, weil es das einzige, schriftlich formulierte und veröffentlichte Konzept ist, das aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis heraus entstanden ist. Förderlehrer sollten seine Inhalte von einem erfahrenen Kollegen vermittelt bekommen. Darin sind Bewegungs-, Mal- und Zeichenübungen enthalten. Audrey McAllen entwickelte diese Übungen vornehmlich aus den Gedanken, die Rudolf Steiner in den ersten vier Vorträgen des Zyklus »Anthroposophie, Psychosophie, Pneumatosophie« (GA 115) geäußert hat. Entscheidende Voraussetzung für die Frage, ob ein Kind Lerninhalte freudig aufnehmen und umsetzen kann, ist die abgeschlossene sensomotorische Entwicklung in den ersten sieben Lebensjahren. Durch unermüdliche Bewegung wird in dieser Zeit der Sinnes- und Bewegungsapparat geübt und damit die Ausreifung des Gehirns und des gesamten Nervensystems impulsiert.

Stellvertretend für viele Entwicklungsschritte sei hier die vollständige Entwicklung der unteren Sinne genannt: mit dem Tastsinn erlebt das Kind von innen seine eigene Grenze, mit einem gesunden Lebenssinn nimmt es die eigene Verfasstheit, die organische Befindlichkeit sowie Lebens- und Tagesrhythmen wahr. Der Eigenbewegungssinn und der Gleichgewichtssinn ermöglichen in engem Zusammenwirken die aufrechte Körperhaltung und koordinierte Bewegungsabläufe. Zusammengenommen schaffen die vier unteren Sinne ein Zuhause-Sein im eigenen Leib.

Wenn diese Entwicklung gesund und vollständig verlaufen ist, fällt um das siebte Lebensjahr herum die Entscheidung, eine Hand (so wie auch Auge, Ohr und Fuß) bevorzugt einzusetzen. Zu dieser Zeit werden bisher körperlich gebundene Kräfte frei, um im Seelischen das Lernen zu er- möglichen. Ist dies nicht der Fall, kann der Schauplatz des ersten Jahrsiebts noch nicht verlassen werden und braucht immer wieder Kräfte, um die unvollständige Entwicklung nachzuholen. Dieser Tatbestand stört das Kind bei der Aufnahme von Lerninhalten oder schwächt die in der Schule benötigten Fähigkeiten. Hier setzt die Extrastunde an. In ihrer Diagnostik, der sogenannten ersten Extrastunde, erstellt sie ein umfassendes Bild der bisher vollzogenen Entwicklung mit der Frage, in welchen Bereichen das Kind Harmonisierung braucht. Die anschließenden Übungen basieren auf dem Grundgedanken, dass die kindliche Individualität sich mit ihrem Körper und der Erde verbinden will. Beides – unser Körper wie auch die Erde – unterliegen strukturellen, urbildlichen Gesetzen, deren allgemeingültige Bewegungsmuster durch die Übungen in Beziehung gesetzt werden können.

Wenn wir in dieser Weise mit dem Kind arbeiten, sollte uns bewusst sein, dass die Übungen auf den »Strukturleib« wirken – den Teil unseres Organismus, der Knochen, Muskeln und Nerven enthält und bei allen Menschen gleich ist. Zu ihm gehören auch archetypische Bewegungsmuster, die in früheren Zeiten in vielfältiger Weise im Alltag enthalten waren, heutzutage aber verschwinden. Ein Beispiel dafür kann die Drehbewegung sein, durch die der Astralleib angeregt wird, sich mit dem physischen Leib zu verbinden. Angefangen von traditionellen Volkstänzen bis hin zu einfachen, alltäglichen Verrichtungen wie dem Auswringen von Wäsche oder dem Aufdrehen eines Wasserhahns waren Drehbewegungen früher im täglichen Leben enthalten und damit auch – über die Nachahmung – Teil der kindlichen Entwicklung. Heute werden diese Tätigkeiten aus dem Alltag von Maschinen durch Knopfdruck oder Wischen ersetzt.

In den Extrastunden-Übungen finden wir diese urbildlichen Bewegungen wieder. Kreise, Spiralen, Lemniskaten, die Gerade und die Krumme werden in vielfältiger Weise dem Kind angeboten. Durch wiederholendes Üben erhält das Ich die Möglichkeit, die gesunden Muster in den Ätherleib einzuprägen. Unterstützend dabei wirken die in fast allen Übungen enthaltenen kurzen Pausen. Darüber hinaus wird die räumliche Orientierung angesprochen, die Auge-Hand-Koordination geübt, das eigene Körperempfinden gestärkt und – besonders wichtig – die Atmung angeregt.

Audrey McAllen empfiehlt, eine Einheit von Bewegungsübungen mit einer Malübung abzuschließen. Dabei werden die Kräfte, die durch die Bewegungsübungen aus dem Körper herausgelöst wurden, wieder zurückgeführt.

Die Arbeit mit dem Konzept der Extrastunde zielt weder auf ein Behandeln von Symptomen ab, noch auf ein forciertes Üben von Lerninhalten. Es soll nicht darum gehen, etwas Defizitäres oder Störendes an dem Kind zu »reparieren«, damit es sich problemlos in die gewünschte Ordnung einfügt. Vielmehr wollen die Übungen ausgleichend und harmonisierend wirken. Sie sind nicht auf schnelle Ergebnisse oder drastische Veränderungen ausgelegt, sondern basieren auf der Erfahrung und dem Vertrauen, dass die gesundenden Elemente, die das Kind durch die Begegnung mit der Extrastunde erhält, ihre Wirkung haben werden.

Was das Leben für die Kinder, die uns heute in der Schule begegnen, bereithält, ist uns noch verborgen. Aber wir wissen, dass sie sich dieses Leben gewählt haben, um sich hier und jetzt mit ihrem Leib zu verbinden. Menschenkundlich ausgerichteter Förderunterricht kann Impulse geben, Gesundendes anbieten und Wege begleiten. Das Kind wird davon aufnehmen, was es für seine Entwicklung nutzen und verwandeln kann.

Zur Autorin: Beate Schram ist Lerntherapeutin in eigener Praxis in Reutlingen und freie Mitarbeiterin an der FWS Tübingen.

Literatur: A. McAllen: Die Extrastunde, Stuttgart 2012 | R. Steiner: Menschenerkenntnis und Unterrichtsgestaltung (GA 302), 4. Vortrag Stuttgart, Vortrag 15. Juni 1921, Dornach 1986