Irrweg Waldorfabschluss?

Frank de Vries

Seit vielen Jahren werden in der deutschen Waldorfschulbewegung alternative Abschlussmöglichkeiten entwickelt und untersucht, damit waldorfspezifische Qualitäten und Inhalte, die in den staatlichen Abschlüssen nicht zur Geltung kommen, dokumentiert und anerkannt werden. Es ist daher erstaunlich, wenn Jost Schieren als ein renommierter Vertreter der Waldorfpädagogik diese Entwicklung als »Irrweg« bezeichnet.

Die Waldorfschulen haben sich mit dem bestehenden Prüfungssystem für die staatlichen Abschlüsse abgefunden, man hat sich arrangiert. Der Wille, etwas zu ändern, ist sogar in Kollegien und Elternschaft auf erheblichen Widerstand gestoßen. Auch wenn die Notwendigkeit, etwas zu ändern, längst erkannt wurde, wird die Benachteiligung unserer Schüler durch die erschwerten Prüfungsbedingungen billigend in Kauf genommen. 

So haben sie z.B. in Baden-Württemberg beim Abitur rechtlich den paradoxen Status »Nichtschüler« zu sein, weil es in der Waldorfschule kein Sitzenbleiben gibt und sie nicht einer Versetzungsordnung unterliegen. Schüler ist nur, wer auch nicht versetzt werden kann. Die Schüler werden beim Abitur und der allgemeinen Fachhochschulreife nach einer sog. modifizierten »Nichtschülerreifeprüfung« oder einer »PO-Waldorf« geprüft und erfahren dadurch eine eklatante Ungleichbehandlung verglichen mit den staatlichen Regelschulen. Ein staatlicher Gymnasiast hat im Hinblick auf die Abschlussnote wesentlich bessere Ausgangsvoraussetzungen. Er sammelt in seinen letzten beiden Schuljahren in den prüfungsrelevanten Fächern Punkte, die fast 2/3 der Abiturnote ausmachen. Die Waldorfschüler dagegen haben am Ende der 13. Klasse eine sogenannte »Ad-hoc-Prüfung«, wobei sich die Abschlussnote zu 85 Prozent aus den schriftlichen und mündlichen Leistungen zusammenstellt und die Vorleistung als Jahresleistung in den sogenannten Hospitationsfächern nur zu etwa 15 Prozent in die Gesamtrechnung mit einbezogen wird. An den staatlichen Gymnasien erhalten die Schüler mit dem Versetzungszeugnis von Klasse 12 nach 13 ohne weitere Abschlussprüfung den sogenannten schulischen Teil einer allgemeinen Fachhochschulreife. 

Waldorfschüler dagegen erhalten diese Form der Fachhochschulreife, wenn sie nach der 13. Klasse die Abiturprüfung nicht bestanden haben. Nur in Baden-Württemberg gibt es für die Waldorfschulen eine eigene Prüfungsordnung für die allgemeine Fachhochschulreife nach Klasse 12.

Ein Weiteres: Seit einigen Jahren werden wir zunehmend mit der Situation konfrontiert, dass Schüler die Schule schon nach der 11. Klasse verlassen. Dieser Schritt hat unterschiedliche Gründe. In einigen Bundesländern erhalten die Schüler die mittlere Reife (FOR) schon nach der 11. Klasse. Es stellt sich dann für sie und ihre Eltern die Frage, warum noch die 

12. Klasse besuchen? Damit die Vorleistung anerkannt wird, haben mehrere Waldorfschulen vor allem in Hessen die gymnasiale Oberstufe eingeführt und bereiten die Schüler in der Regel ab der 11. Klasse nur noch auf das Abitur vor. An einigen Schulen entsteht die paradoxe Situation, dass Schüler, die in der 11. Klasse die mittlere Reife erhalten haben und auch noch gerne die 12. Klasse besuchen möchten, schon nach der 11. Klasse die Schule verlassen müssen. In Bayern haben wir sogar die groteske Situation, dass Schüler, die sich nach der 10. Klasse für den Abiturzweig entschieden haben und am Ende der 

12. Klasse bemerken, dass sie mit den Anforderungen überfordert sind, gar keinen Schulabschluss erhalten. 

Daraufhin haben einige Waldorfschulen (vor allem in NRW) Berufskollegs eingerichtet, um neben der mittleren Reife und dem Abitur auch eine Berufsausbildung mit der Fachhochschulreife anbieten zu können. Bundesweit bietet zurzeit eine große Anzahl von Schulen das Abschlussportfolio der Waldorfschulen (APF-Waldorf) an. Auch auf europäischer Ebene wurden Alternativen diskutiert: das Internationale Bakkalaureat (IB), das European Portfolio Certificate (EPC) und das Steiner-School-Certificate (SSC).

Für die Waldorfschulen in NRW wird zurzeit geprüft, in welcher Form das Abschluss­­-portfolio der Waldorfschulen den Übergang in den Beruf und ins Studium gewährleistet, welche Zugangsmöglichkeiten an die Hochschulen und Universitäten möglich sind und in welchem Rahmen eine Vergleichbarkeit mit staatlichen Abschlüssen zur Anerkennung gebracht werden kann. In einem wissenschaftlich begleiteten Pilotprojekt mit einer oder mehreren Waldorfschulen in NRW soll der Nachweis geführt werden, dass die Waldorfschulen mit ihrem eigenen Lehrplan einen Kompetenzerwerb wie in den staatlichen 

Regelschulen anbieten und damit die Bedingungen zumindest für den sogenannten schulischen Teil einer allgemeinen Fachhochschulreife nach Klasse 12 erfüllen, die an den staatlichen Gymnasien ohne weitere Abschlussprüfung mit dem Versetzungszeugnis von Klasse 12 nach 13 verbunden ist. 

Die Waldorfschulen haben mit ihrem eigenen staatlich anerkannten Lehrplan auch rechtlich einen Anspruch auf eigene Formen der Leistungsbewertung und sollten diese auch einfordern und zur Anerkennung bringen und nicht in vorauseilendem Gehorsam sich einem staatlichen Prüfungssystem unterordnen, das wissenschaftlich nachgewiesenermaßen mit der zugrundeliegenden Zensurengebung und dem geforderten Notensystem ungeeignet und pädagogisch schädlich ist. 

Nach hundert Jahren Waldorfschulen ist die Initiative, im Prüfungswesen etwas ändern zu wollen, immer noch mit erheblichen Widerständen verbunden. Es ist nicht nur der Widerstand von außen, sondern auch der Widerstand in den eigenen Reihen, der uns lähmt. Anstelle einer tragfähigen Zukunftsvision erfahren wir wohlwollende Ignoranz! Es ist die Bequemlichkeit und Angst vor Änderungen, denn eingefahrene Wege müssen verlassen, alte Gewohnheiten geändert, neue Ideen umgesetzt werden. Wir wissen eigentlich sehr genau, dass ein eigener Waldorfabschluss nicht nur wünschenswert, sondern auch für die Zukunft der Waldorfschulen von entscheidender Bedeutung sein wird. 

Wo ist der Mut zur Änderung? Es geht um das Wohlergehen unserer Kinder, es geht um die pädagogische Verantwortung, es geht um die Freiheit im Bildungswesen, es geht um das Ideal und das Bildungsziel einer freien Persönlichkeitsentwicklung!

Zum Autor: Frank de Vries unterrichtet über mehr als 40 Jahre die Fächer Deutsch, Geschichte, Kunstgeschichte, Religion und Philosophie in der Oberstufe und ist Projektleiter des Abschlussportfolios der Waldorfschulen in Deutschland (APF-Waldorf).