No body is perfect

Michael Birnthaler

Schon vor über 100 Jahren hat Rudolf Steiner genau dieses Rätsel untersucht und eine bemerkenswerte Antwort gefunden. In einem Vortrag mit dem Titel »Gesundheits­fieber«, den er am 5. Dezember 1907 in München gehalten hat, beschreibt er das Streben nach Gesundheit und Körperglück als paradox, ähnlich wie das Streben nach Geld und Reichtum. Denn der Geldsegen stelle sich nur dann ein, wenn das verkrampfte Streben danach losgelassen werde. Solange jemand den Geldstrom auf sein eigenes Ego lenke, bleibe die Fülle aus. Sobald er aber sein Ego in den Dienst der Allgemeinheit stelle, werde ihm das Glück hold sein. Er verwandelt sich nach dem »Schneewittchen-Prinzip« – viele geben, einer wird reich – von einer Pechmarie zur Glücksmarie. Ähnlich verhält es sich mit dem körperlichen »Wohlstand«: Wer den gesunden Körper lediglich für sich als Selbstzweck begehrt, der wird am meisten von Krankheiten geplagt werden. Wer dagegen den gesunden Körper erstrebt, um genügend Kraft für den Dienst am Gemeinwohl zu haben, wird mit unverwüstlicher Gesundheit gesegnet sein. 

Eine gesunde, das heißt, sozial dienstbare Einstellung zu seinem eigenen Leib zu entwickeln, scheint heute schwieriger denn je. Wo bis zur Neuzeit noch eine asketische und leibverneinende Einstellung vorherrschte, dominiert heute der körperfixierende narzisstische Leibgenuss – und sei es in Form eines ewigen Kampfes mit der Waage.

Das Körperideal »Madonna«

»Madonnas« lieben ihren Körper abgöttisch und degradieren ihn zu einem hedonistischen Lustobjekt. Ein typisches Beispiel für dieses idealisierende Körperbild ist der »King of Pop«. Michael Jackson wäre nicht die größte Pop-Ikone aller Zeiten geworden, wenn er nicht seinen Körper und sein Gesicht vollkommen neu erfunden hätte – bis es maskenhaft engelsgleich wirkte. Doch der Wurf wurde zum Bumerang, das chirurgisch erzwungene Körperglück verwandelte sich in Schicksalspech; Jackson starb verfrüht, leidvoll, unglücklich. Man fand in seiner Wohnung Narkotika, Drogen, Arzneimittel und allerlei Medikamente. Harmlosere Beispiele der Körperidealisierung und exzessiven Körperzuwendung sind heute weit verbreitet. Zigmillionen Menschen treibt es in die Fitnessstudios, Beautyfarms, Fünfsterne-Wellnesstempel, Solarien und Sanarien, in dampfende orientalische Saunen und unter stinkende Fangopackungen.Längst ist Yoga Bestandteil der Work-Life-Balance des urbanen Menschen geworden. 

Allein in Deutschland hat der Boom inzwischen fünf Millionen Menschen erfasst und 20.000 Yogalehrer konzentrieren sich darauf, die »disziplinierten harten Körper« wieder für Wohlbefinden empfänglich zu machen und in Wohlgefallen aufzulösen. Sie versprechen, den Menschen über den Körper, die richtige Atmung, befreiende Asanas und den Lotussitz ins Nirwana zu levitieren.

Wie eine Barbie-Puppe

Während noch vor einer Generation der artifiziellen Veränderung des eigenen Körpers (Body Modification) der Ruch von Knast und Puff anhaftete, gilt sie heute fast schon als Statussymbol. Der Boom des Tätowierens und Piercings ist nicht zu stoppen. Neun Prozent aller Frauen sind nach einer Studie heute gepierct. 53 Prozent aller Menschen mit Piercing in Deutschland sind unter 18 Jahren. Millionen Deutscher unterziehen sich Schönheitsoperationen. Das scheint alles ganz normal.

Eine härtere Gangart des artifiziellen Körperbildes stellt die Body Modification dar. Gemeint sind körperliche Verfremdungen, von einfachen chirurgischen Eingriffen, wie dem Implantieren von Metallbolzen in den Nacken, oder dem Spalten der Zunge, dem Einbrennen von Narben, bis hin zu extremen Operationen, durch die das Aussehen eines Menschen beispielsweise dem einer Echse angeglichen werden soll. Inzwischen gibt es 30.000 »BodMods« in Deutschland, die dieser selbstverstümmelnden Leidenschaft frönen. 

Als »BodMods« gelten auch Frauen, die sich voll und ganz in lebende Barbie-Puppen verwandeln wollen. Barbie Bennett aus Kalifornien beispielsweise hat sich nicht nur unzähligen plastischen Operationen unterworfen, sondern auch einer Gehirnwäsche. In bisher 20 Hypnosesitzungen versucht sie, ihren IQ zu dezimieren und ihr Mindset dem einer Barbie anzunähern.

Wild wie Tarzan

Die neue Körperorientierung richtet sich dabei weniger nach einem wirklichen physischen Bedarf – keiner braucht heute mehr Muskeln, um Kohlesäcke zu schleppen –, sondern nach einem Gefühlszustand. Um sich zwischendurch immer wieder einmal »saumäßig« wohlzufühlen, gibt es heute ein Arsenal von Möglichkeiten: Survival, die Wildnispädagogik, Wrestling, Catchen, Rugby, das Live Action Role Play (LARP), das gegenwärtig 40.000 junge Menschen in seinen Bann zieht, bis hin zu schamanischen Fakirnummern. Sie finden sich zu Tausenden beim Body-Workout, in Boot-Camps, wo sie sich freiwillig »stiefeln« lassen, oder ganz banal in chromblitzenden Bodybuilding-Studios. Nicht zu vergessen das »Dschungelcamp«, eine Ekel-Show mit irrsinnigen Einschaltquoten, bei der die Zuschauer vom Fernsehsessel aus ihren inneren Tarzan ausleben können.

Befreit von den Fesseln eines leibfeindlichen Erbes wenden sich die Vertreter des wildnisorientierten Körperbildes einer uneingeschränkten Muskelmoral zu, die einem Götzendienst am brachialen Körper gleichkommt. 

Terminator, der Maschinenmensch

Das männliche Pendant zu den Barbies sind die Maschinenmenschen, die Terminatoren und Cyborgs. So verbreitete sich ein Tattoo viral wie selten und erreichte in kürzester Zeit einige zehn Millionen Aufrufe. Der Clou dabei war, dass es sich um ein 3-D-Tattoo handelte, das den Tätowierten einem Maschinenmenschen täuschend ähnlich sehen ließ. Eine andere Variante stellen Biochips dar, die unter die Haut gepierct werden, die den Trägern maschinenähnliche Potenziale verleihen und sie mit einem weltweiten Netz verbinden. Inzwischen laufen über 50.000 Menschen als lebende Transhumane, als sogenannte »Cyborgs« herum – Tendenz steigend. Der neueste Schrei: Die BodMods wollen das Böse nicht nur auf ihrer Haut darstellen, sondern es ganz verkörpern. So hat sich jetzt ein Mann durch mehrere Operationen, unter anderem eine Teilamputation der Nase, derart verformen lassen, dass er dem Nazischurken »Red Skull« ähnlich sieht.

Diese vier prototypischen Körperbilder sind sichtbare Spuren für die fortschreitende Entfremdung zwischen Körper und Seele, Geist und Leib. Wie könnten wir aber zu einer wirklichen Leibfreundlichkeit zurückfinden? Rudolf Steiner in dem oben erwähnten Vortrag: »Wer am Tingeltangel und dergleichen Freude hat, der gehört dahin, und es wäre verkehrt, ihm die Freude zu nehmen. Gesund wäre es nur, ihm den Geschmack daran zu nehmen.« Es geht also darum, eine Empfindung (»Geschmack«) zu wecken oder zu veranlagen, die die geistige und soziale Dimension des Leiblichen unterstützt. Die Fixierung auf das Leibliche kann aber nur überwunden werden, indem der »Geschmack« für höhere Werte entwickelt wird. Idole wie Terminator und Barbie können also nur so weit abgelegt werden, wie echte Ideale an ihre Stelle treten. 

Steiner wurde nicht müde, zu betonen, dass es auch beim Sport nicht um praktizierten Darwinismus, sondern um »sinnvolle Bewegungen«, um das Erleben der Raumesqualitäten und eine ganzheitlich-sinnliche Leiberfahrung gehe. An den Herbert-Hahn-Schulen gehören beispielsweise körperbetonte Tätigkeiten wie Feuerwehrübungen, Küstenwache, Bergrettung, Expeditionen oder technische Hilfs­einsätze, die die Heranwachsenden befriedigende Körpererfahrungen machen lassen, zum schulischen Alltag. Es geht nicht um den idealisierten oder instrumentalisierten Körper, sondern darum, in seinem Leib einen Freund zu finden. 

Denn wer seinen Leib wie einen Freund empfinden kann, mit dem man zusammen die Bewährungsproben in den Nöten der Zeit meistern will, wird in seinem Körper echtes Glück erleben dürfen. Denn er weiß: No body is perfect.

Zum Autor: Dr. Michael Birnthaler, www.eos-erlebnispaedagogik.de

Literatur: R. Steiner: Die Welträtsel und die Anthroposophie, GA 54, Dornach 1983; R. Steiner: Die Erkenntnis der Seele und des Geistes, GA 56, Dornach 1985; M. Hesselt van Dinter: Tatau: Traditionelles Tätowieren weltweit, Uhlstädt-Kirchhasel 2009; G. Höhner, T. Teismann, U. Willutzki: Tattoos und Piercings: Motive für Körpermodifikationen bei Frauen mit Borderline-Symptomatik, in: PPmP Psycho- therapie Psychosomatik Medizinische Psychologie; 64(02): 63-69, 2014