Pegasus hilf

Holger Grebe

Zwei mächtige Schwingen halten den schlanken Leib des galoppierenden Rosses in der Schwebe. Vor fast 30 Jahren hat mein Künstler-Bruder während der Sanierung unseres Hauses mit Kelle und Spachtel das Misch-Wesen in einem unbeobachteten Moment als Halbrelief an die Wand gezaubert. Seither begleitet mich das mythologische Zeichen wie ein genius loci. Seit der griechischen Antike wird Pegasus, ein Kind des Meeresgottes Poseidon, als Dichterross angesehen, durch dessen Hufschlag ein Brunnen entstanden sein soll. Aus dieser Quelle trinken alle Dichter.

Die Sehnsucht nach dem inspirierenden Quell und nach dem Flügelschlag des Pegasus hat auch mich in meinen fast 30 Berufsjahren als Waldorflehrer begleitet. Wenn die Korrekturstapel in Deutsch und Geschichte am Wochenende drückten, eine Kinderbesprechung für die nächste Konferenz vorzubereiten war und ich zugleich die hässliche, aber hochgelehrte Gralsbotin Kundrie aus Wolframs Parzival-Epos in ihrer Doppelnatur verstehen musste, um mir vor den Elftklässlern keine Blöße zu geben, dann flehte ich im Stillen: Pegasus hilf!

Überforderung, Müdigkeit, Zeitmangel, Ideenlosigkeit sind ja im Lehrerberuf keine Ausnahmeerscheinung, sondern fester Bestandteil des gewöhnlichen Alltags und nur mit nachsichtigen Schülern, mit Demut und viel Humor zu ertragen! Eine große Hilfe in dieser melancho­lischen Gemütslandschaft war mir die Lektüre von Heinz Zimmer­manns Bändchen Von den Auftriebskräften in der Erziehung (Dornach 1997). Die Entdeckung, dass es nicht nur Gravitationskräfte gibt, die nach unten ziehen und »lähmend auf die Eigenaktivität wirken«. Sondern dass es auch einen Kräftestrom gibt, der genau entgegengesetzt wirkt: als Auftrieb nach oben. Das müssen sie sein, die Pegasuskräfte! Es gilt, eine Art seelisch-geistige Hygiene zu entwickeln, die die Bedingungen für innere Produktivität im Blick hat und nicht das große Muss der äußeren Normen. Wie arbeitet man sich vom »Ich muss« zum »Ich will« voran?

Erste Regel: Ganz bei dem sein, was man gerade tut oder wahrnimmt. Also gerade keine Korrekturen am Rand einer durchdösten Konferenz. Sondern Verstärkung der Anteilnahme an dem, was gerade gesprochen oder gedacht wird. Den »Nachklang« festhalten, wenn man ein Klassenzimmer verlässt. Was war heute los? Wen hast du bewusst wahrgenommen? Und welche Schülerfrage klingt besonders nach, wenn ich das Geschehen später vor dem inneren Auge Revue passieren lasse?

Zweite Regel: Kleine Erfolge feiern. Ein stilles Mädchen hat den Mut gefasst, sich zu äußern. Ein recht angepasster Junge hat widersprochen und damit ein Klassengespräch in Gang gebracht. Mein Tafelanschrieb war lesbar und diente am Ende des Hauptunterrichtes dazu, auf das
Gearbeitete noch einmal mit Abstand zurückzublicken. Zur Souveränität des Ich gehört aber auch ein anderer Umgang mit Zeit.

Dritte Regel: Nicht in die Zukunft hineinschlittern, sondern mit Muße vorgreifen. Erste innere Fragen zu einer bevorstehenden Epoche notieren, bevor ich in Stapeln aus der Bücherei versinke. Eine kleinere oder größere Forschungsfrage ins neue Schuljahr mitnehmen, wenn ich in den Sommerferien im Kreis der vielköpfigen Familie ausatme. Wie hängen die oberen vier Sinne (Hören, Wortsinn, Gedankensinn, Ich-Sinn) zusammen? Was sagt der erste Satz über einen Roman aus? Was bedeutet Achtsamkeit als pädagogische Tugend? Und wie lerne ich, den Bewerter in mir zum Schweigen zu bringen und stattdessen eine Form der wertschätzenden Wahrnehmung zu kultivieren?

Ein Letztes: Schüler sind keine Klienten, sondern Weggefährten, Mitarbeiter, sensible Rebellen, die es hoch schätzen, wenn wir aus der Deckung der Routine herauskommen und uns als verletzlich und suchend zeigen. Unterrichtszeiten sind Zeiten der Begegnung und des Gesprächs, keine Pflichtveranstaltungen rund um den Nürnberger Trichter. In guten Zeiten ist der Hufschlag des Pegasus wie ein spiritueller Herzschlag vernehmbar. Pegasus – Dichterross, Lehrerross.

Zum Autor: Holger Grebe ist Oberstufenlehrer für Deutsch und Geschichte an der Freien Waldorfschule Balingen.

Literatur: H. Grebe: So lass ich mich nicht prüfen! Plädoyer für eine Verwandlung des bewertenden Blicks, Kassel 2018