»Mama, er spricht italienisch!«

Liebe Leserin, lieber Leser,

Julian (3) war mit seiner Familie und seinen Geschwistern in den Sommerferien in Italien. Man gönnte sich zum Frühstück täglich frische Brötchen. Wieder in Deutschland, steht die Familie Samstag morgens in der Bäckerei. Julians Bruder Lukas (2) wendet sich dringlich an seine Mutter, doch sie versteht nicht, was er will. Seine Worte sind unverständlich. Was will er sagen? Lukas ist verzweifelt, zerrt am Ärmel seiner Mutter und wiederholt in dem vollen Laden nervtötend immer wieder den gleichen Satz: »Tschono Lisa ei?« Lukas wird jetzt richtig wütend. Der Vater kommt hinzu, auch er versteht ihn nicht. Die Szene nimmt dramatische Züge an. Keiner versteht Lukas. Hat er wieder einen Süßigkeiten-Kauf-Anfall – ein Überraschungsei im Regal entdeckt? Da fällt es seinem Bruder Julian ein: »Mama, Lukas spricht wieder italienisch!« Allen fällt es wie Schuppen von den Augen: »Buon giorno Luisa, come stai?« (»Guten Morgen Luisa, wie geht es Dir?«) Tiefe Befriedigung bei Lukas.

Kleine Kinder lernen eine Sprache ohne Sinn und Verstand – könnte man meinen. Jedenfalls nicht grammatischen Regeln und richtiger Aussprache folgend. Sie eignen sich eine Sprache – auch ihre Muttersprache – nach Klang, Geste, Stimmung und Situation an. Zur Empfindung kommt ein Lautgebilde, das sich erst wiederholend, dann immer stärker variierend einmal so und ein anderes Mal so anhört. Dann werden systematische Versuche unternommen, sie mit dem Wahrgenommen sprachlich in Deckung zu bringen. Dabei entstehen originelle Produktionen: Abverse, Dreschmäher, Zwinglinge und Helischrauber. Oder »Gesicht in die Mahlzeit« für »Gesegnete Mahlzeit«. So lernen kleine Kinder weit vor dem bewussten Umgang mit einer Sprache – auch der fremden – eine Sprache sprechen.

Die Fremdsprachendidaktik der Waldorfschulen berücksichtigt die sprachliche Entwicklung der Kinder von der »empfundenen« zur »gedachten« Sprache. Vor der Mittelstufe stehen deshalb die üblicherweise kognitiv orientierten Spracherwerbsmodelle aus pädagogisch-menschenkundlichen Gründen nicht im Vordergrund, sondern der ernst-spielerische Umgang mit der Sprache über Rezitation, Singen, Zungenbrecher, Bewegungsspiele, Theaterstückchen und Geschichten. Dass die Kinder freudig und vertrauend in einen Sprachfluss eintauchen, ist das Ziel, nicht die durch Fehlerangst erzeugte Perfektion. Die Grammatik und die Rechtschreibung laufen nebenher und werden erst ab der 5., 6. Klasse bewusster geübt.

Kinder lernen anders als Jugendliche und Erwachsene. Lukas hat also alles richtig gemacht, nur die »Großen« haben kein Italienisch verstanden.

Mathias Maurer