Bei dem Büchlein »Zeitgenosse werden – ein manichäischer Übungsweg« von Christine Gruwez könnte man aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes meinen, handlichen und leichten Lesestoff – zum Beispiel für die tägliche Fahrt mit der S-Bahn – in der Hand zu halten. Es trügt der Anschein. Mit seinen 163 Seiten bietet es Stoff für viele Stunden des Reflektierens und Übens. Da jedoch die Beobachtungen in irgendeiner x-beliebigen Großstadt, wie Berlin oder Würzburg sicherlich Material und Anregungen für das behandelte Thema bieten würden, wäre es tatsächlich eine geeignete Lektüre für die Fahrt in Gesellschaft von einer Clique von pöbelnden Fußballfans in mit Graffiti beschmierten Waggons wie es mir passierte auf der Strecke von Dortmund nach Witten.
In vier Kapiteln nährt sich die flämische Autorin ihrem Thema. Sie schreckt dabei vor keinem heißen Eisen zurück, sondern benennt seelische, soziale und politische Nöte und Probleme der Gegenwart: Gewalt, Rezession, Armut, Vereinsamung, Terrorismus, Fremdenfeindlichkeit …
In dem ersten Kapitel mit dem Titel »Das Terrain unserer Zeit erkunden« hinterfragt sie das Fortschrittsdenken. Wie und wann ist es entstanden? Wohin hat es geführt? In dem Zusammenhang weist sie bereits auf eine einfache Faustregel hin: man möge versuchen, immer wieder so an anderen Lebens- und Denkweisen Anteil zu nehmen, dass man aus der eigenen Position heraus anderen ihren rechtmäßigen Platz zugesteht. Die Autorin nennt es die »Umkehrung der Perspektive«. Wenn dies auf beiden Seiten geübt wird, entsteht aus dieser Gegenseitigkeit Zeitgenossenschaft. Ihre anregenden Gedanken erläutert und illustriert sie immer wieder anhand von konkreten Beispielen aus dem Alltag.
In dem zweiten Kapitel beschreibt sie zuerst die archetypischen Schritte eines Initiationsprozesses und widmet sich dann dem Mysterium des Bösen. Dabei verweist sie auf Mani, den Gründer des Manichäismus, der bereits im dritten Jahrhundert einen Umgang mit den destruktiven Kräften lehrte. In dieser Strömung wurde versucht, Sinn und Bedeutung von Gut und Böse sowohl in das Bild vom Menschen wie auch in die Bedeutung von Entwicklung zu integrieren. Wer sich nicht so sehr für die geschichtliche Hintergründe interessiert, wird dennoch mit Spannung den Gedankengang der Autorin verfolgen, wenn sie herausarbeitet, welchen Unterschied es macht, ob man auf die Auswirkungen des Bösen oder auf die Wesensgestalt des Bösen schaut. Diese Wesensgestalt steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Geste der Absonderung. Bedeutenderweise ist dies aber auch die Grundlage für die menschliche Freiheit. Somit wird die Bandbreite zwischen Absonderung einerseits und Zusammengehörigkeit anderseits die Bühne für eine moderne Einweihung. In Anlehnung an den historischen Manichäismus skizziert Christine Gruwez einen Initiationsweg in fünf Schritten, der hier in seiner Tiefe nur angedeutet sein kann. Das Zulassen der Ohnmacht und des Schmerzes bekommt dabei eine zentrale Bedeutung. Die Fluchtwege, die Menschen in der Konfrontation mit dem Bösen oft verständlicherweise ergreifen, werden nicht verschwiegen, sondern im Gegenteil in ihrer Grundstruktur benannt. Wer jedoch durch das Nadelöhr geht und sich im Schmerz wie zurück nimmt, wird dazu befähigt, zum Gefäß zu werden. So kann eine Kraft geboren werden, die Hinweise für eine Art Erlösung bietet. Durch Beispiele bekommt der Leser einen Eindruck davon, was konkret passieren kann, wenn Menschen sich konsequent und mutig auf einen solchen Weg einlassen.
In dem Kapitel mit dem Titel »Zeichen der Zeit« beschreibt sie die Geburt des Individuums zwischen Potential und Verwirklichung. Sie geht ein auf die Spannung zwischen Absonderung und Bindung und im Zusammenhang damit auf die Notewendigkeit, neue Gemeinschaften zu bilden. Auch hier bezieht sie in ihrem Gedankengang den historischen Manichäismus mit ein. Die Urgebärde dieser Geistesströmung ist das Einschließen und das Aufnehmen. Dadurch wird das so genannte Böse integriert. In dem man hinlauschen lernt, wird man vom Zuschauer zum Zeitgenossen. Die Machtlosigkeit verwandelt sich in Geistesgegenwart. Die drei Gelübde, die überliefert wurden, hängen mit drei Grundfunktionen zwischenmenschlicher Beziehungen zusammen. In allen lebt der Gedanke der »Reinheit«. Im Bezug auf das Sprechen und Denken wird dazu aufgefordert, die Wahrheit zu sprechen. Im Handeln sollte auf Gewalt verzichtet werden und beim Fühlen soll man nicht das begehren, was einem nicht zusteht. Auch hier gelingt es der Autorin aufzuzeigen, welche Relevanz diese alten Regeln im Lichte unserer Zeit und ihrer Probleme haben.
In dem letzten Kapitelchen betrachtet die Autorin noch einmal philosophisch hinterfragend das, was wir unter Identität und Persönlichkeit verstehen. Danach wirft sie einen Blick auf die Mitte, die entsteht, wenn wir uns aus der Abhängigkeit dieses Gewordenen befreien und welche Bedeutung dies für die Begegnung der Anderen.
Mit Interesse und Achtung für die konsequente Denkart habe ich die anregenden Gedankengänge der Autorin nachvollzogen. Die Anthroposophie ist als Hintergrund im Text erlebbar, aber bildet keine Barriere für die Leser, die sich mit anthroposophischen Begriffen und Gedanken bis jetzt nicht beschäftigt haben. Ich empfehle das Büchlein somit gerne jedem, der angesichts der Untergangsstimmung, der Krisen und Erschütterungen unserer Zeit auf der Suche ist nach angemessenen Umgangsformen. Also eigentlich empfehle ich es jedem.
Christine Gruwez: Zeitgenosse werden – ein manichäischer Übungsweg. 163 S., brosch. EUR 14,–. Pforte Verlag, Dornach 2009.