»Mann, Alta!« – Verliert die Jugend die Sprache oder erfindet sie eine neue?

Ute Basfeld

Jugendliche bewegen sich in unterschiedlichen Sprachwelten und drücken sich, je nach Anliegen, unterschiedlich aus. Sie verwenden eine Sprache, um sich in ihrer Alltagswelt zu bewegen, eine andere, um ihrem Bedürfnis nach authentischer Verständigung Ausdruck zu verleihen.

Als Beispiel für diese verschiedenen Sprachanliegen möchte ich zwei Schüleräußerungen nennen: »Mann, Alta, ich rede doch garnich!« (Zehntklässler) und: »So wie ein Mädchen auf einem poetry slam über ›Zeit‹ gedichtet hat, so tief müsste man sich ausdrücken können!« (Neuntklässlerin). Welche Spannweite liegt zwischen beidem!

Ganz klar: Bei der ersten Äußerung ist Jugendsprache als »Kommunikation« mit einem Lehrer infolge hoher Emotionalität in einen ›falschen‹ Anwendungsbereich gerutscht. Im anderen Fall geht es um den bewussten Verständigungsversuch über etwas, was einem in vermuteter Wechselseitigkeit gefühlsmäßig sehr wichtig ist. Was aber ist eigentlich »Jugendsprache«? Wann wird sie verwendet? Welches Bedürfnis wird damit abgedeckt und welche Anliegen gehen über die Verwendung von Jugendsprache deutlich hinaus? Diese Fragen gilt es im Einzelnen zu klären.

Die Jugendsprache: »… um sich einen Schutz zu bauen, aber auch, um direkt sein zu können« (Schüler, 11. Klasse)

In einer sozio-linguistischen Hausarbeit von Helena Müller zum Thema »Jugendsprache im Wandel«, heißt es dazu: »Wie an Beispielen von chillen und kultig gezeigt wurde«, machen einige Wörter im Kreislauf der Spracherneuerung »›Karriere‹ vom Szenewort zum umgangssprachlichen Alltagswort.« Das Gebilde Jugendsprache hat also deutlich weiche Ränder! Wie äußern sich Jugendliche selbst im Alter von 14 bis 19 Jahren über das, was Jugendsprache ist, wann und wo sie sie gebrauchen und was sie leisten kann und was nicht? Im Rahmen meines Deutschunterrichtes konnte ich diesbezüglich einen kleinen Einblick erhalten. Rund hundert Schüler und Schülerinnen der Karlsruher Waldorfschule (9. bis 12. Klasse) haben sich im Januar 2016 zu den folgenden drei Fragekomplexen geäußert:

1. Was ist Jugendsprache?

2. Was mag ich/mag ich nicht an Jugendsprache?

3. Was bedeutet mir Sprache überhaupt?

Was ist Jugendsprache: Welche Ausdrücke, Kürzel sind »in«?

Alta, Digger, Hashtag; Bff – best friends forever, OMG – oh mein gott, wg – was geht/wie geht’s sind einige der vielen Ausdrücke und Abkürzungen, die oft aus dem Englischen stammen, der schnelleren Verständigung beim »Whatsappen« dienen und auch in Computerspielen gebräuchlichen, umgangssprachlichen Redeweisen und Kürzeln entsprechen. Ein Wort wie »Alta« meint weniger das Alter, es ist vielmehr Ausdruck von sich abgrenzender Verwunderung bis Bestürzung: schärft also die Emotionalität und ist somit von dem Schüler des Eingangsbeispiels richtig gebraucht, nur im falschen Bezugszusammenhang einem Lehrer gegenüber.

Was mag ich/mag ich nicht an Jugendsprache?

Zum Beispiel: Man kann sich teilweise schneller verständigen, was auf unsere Leistungsgesellschaft zurückzuführen ist (12. Klasse). Es ist schneller zu schreiben, jeder weiß, was man meint, es ist einfach zu sagen, ohne lang drüber nachzudenken (11. Klasse). Ganz klar geht es also um Gruppenzugehörigkeit, um Eintauchen in eine vertraute Gruppe durch ein­fache, locker-entspannte, schnelle, praktische Kommunikation: ein Wort statt zehn, meistens ohne Anwendung von Komma und Grammatik; eine Kommunikation, die Spaß bringt, die aus dem Reiz am Schöpfen und Benutzen neuer Wörter geschieht, die funktioniert, ohne groß zu denken, mit Insiderwissen und Humor: Ei Bitches: D (als Witz). Eine Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen geht damit einher. Besonders deutlich ist die Aversion gegenüber der »Assisprache«, worunter ernsthaft beleidigende und/oder sich fortwährend wiederholende Ausdrücke verstanden werden. Auch Erwachsene, die sich jugend-sprachlich ausdrücken, sind »out«.

Was bedeutet mir Sprache überhaupt in Abgrenzung zur Jugendsprache?

Besser als durch folgende Sätze kann das wohl nicht auf den Punkt gebracht werden: »Die normale Sprache als Kommunikationsinstrument, dagegen Jugendsprache, um normal zu sein« (11. Klasse). »Mut, Gefühle und Bedürfnisse auszusprechen; Verständnis, Austausch, voneinander lernen« (9.Klasse). »Ausdruck der eigenen Gedanken, Austausch mit der Umgebung« (11. Klasse). »Kommunikation zwischen Menschen, die aber nicht nur auf Austausch von Bedürfnissen angelegt ist. – Verständigung, damit Gefühle zum Ausdruck bringen, Bildung« (12. Klasse).

Ganz deutlich wird somit: Soll Sprache Ausdruck von Individuellem sein, von etwas, was ernst gemeint, wichtig ist, wird das System der Jugendsprache nicht als geeignet erlebt! Ihm wird auch nicht viel kreatives Potenzial, lediglich schnelle und spaßige Insiderinformation innerhalb einer Gruppe zugesprochen. Als ein erstes Ergebnis lässt sich festhalten: In unserer globalisierten Zeit wählen Jugendliche in ihrem Alltag Sprachformen auf unterschiedlichen Ebenen, wobei sie souverän die verschiedenen Anwendungsbereiche und Wertigkeiten unterscheiden können. Aber wenn die Suche nach einem lebendigen Sprach-Quell nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Jugendsprache zu stehen scheint, woher kommt sie dann?

Schauen wir etwas tiefer: Einerseits lässt sich feststellen, dass es angesichts der Vereinnahmung von Sprache als Informationsträger eklatant ist, wie die Sprache immer weniger erlebt wird. Entsprechend äußert sich die englische Gegenwartsautorin, Jojo Moyes, am Ende ihres Buches »Eine Handvoll Worte« in einem dort abgedruckten Gespräch hinsichtlich der Frage, was sich in einem Zeitalter der E-Mails und SMS verändert habe: »Alles. (…) Ich glaube, dass eine große Gefahr der neuen Technologien darin besteht, dass man zuviel zwischen den Zeilen liest, (…) dass die Sprache, in der romantische Gefühle ausgedrückt werden, nebulöser wird, nicht klarer.«

Dem steht gegenüber, was eine Neuntklässlerin so formuliert: »Ich lese fast nur Körper- bzw. Augensprache.« Ist da auf der Suche nach der Echtheit der sprachlichen Mitteilung vielleicht eine neu erwachende Fähigkeit im Lesen »zwischen den Zeilen« zu beobachten?

Einige Beispiele aus der pädagogischen Praxis mögen das beleuchten: In der Poetik-Epoche galt es, ein Akrostichon zu »D-I-C-H-T« selbst zu dichten. Jeder neue Zeilenanfang hat mit dem aus dem Titel folgenden Buchstaben zu beginnen. Was schuf ein Zehntklässler in Sekundenschnelle?:

D as

I

C

H

T anzt.

Kürzer, prägnanter und schöner geht es nicht!

Ein anderer Schüler eröffnete die Poetik-Präsentation mit den Worten von Ingeborg Bachmann: »Hätten wir das Wort, hätten wir die Sprache, wir brauchten die Waffen nicht!«

Der Schüler meinte, was er da sagte! Später, als Zwölftklässler, wehrte er sich dagegen, Sprachübungen einfach so zum Einsprechen für die Proben zum Zwölft-Klass-Spiel zu sprechen. Das weist auf einen konsequenten Umgang mit dem Wort hin, der sich bei heutigen Jugendlichen immer häufiger beobachten lässt: Nur, was selbst durchdrungen werden kann, ist authentisch!

Es zählt nicht mehr die Aufforderung aus bloßer Autorität heraus, also kein: »Macht das mal, das ist gut!« Alles, auch das Verhältnis zur Sprache, will selbst erworben werden, jedenfalls, wenn das Wort Ausdruck des Eigenen werden soll, auf dass wir der Waffen nicht mehr bedürfen!

In der Probenarbeit zum »Faust« begriff ein Zwölfklässler spontan, wo er das ihm bis dahin unbekannte »erbärmlich« in »Trüber Tag. Feld« fühlen kann: »›Erbärmlich‹ – fühle ich im Brustraum«.

Eine andere Schülerin verkörperte als Zwölftklässlerin die Claire Zachanassian aus dem »Besuch der alten Dame« von Friedrich Dürrenmatt in feinster, finsterster Form. Sie beschrieb ihr Spiel so: Diese schwarze Seite könne sie nur zur Erscheinung bringen, indem sie gleichzeitig genau so weit in den hinteren Raum ihrer lichten Seite hineingreife.

Zwischen den Zeilen wird es interessant

Kann es nicht sein, dass eine ganz neue Sensibilität für Echtheit als Sprache der Jugend ausgebildet wird, die zwischen den Zeilen wahrzunehmen vermag, was als Ausdruck der eigenen Persönlichkeit, des eigenen Ich im Austausch mit der Welt an sich selbst und auch am Gegenüber erlebt wird? Und gebiert nicht der an der Informations- und auch an der Jugendsprache erlebte Mangel die Sehnsucht nach einem lebendigen Sprach-Quell?

Mit diesen Fragen und dem nachfolgenden Gedicht einer Zehntklässlerin möchte ich schließen.

Weit weg

Ich finde es sehr schwer

nicht immer abzuschweifen

ganz weit weg in die Ferne

dort wo alles leiser ist

wo kleine Taten große sind

und Zeit gar keine Rolle spielt

die Wahrheit nicht verschleiert wird

in falsche Strahlen des schönen Scheins.

Wo Geld und Macht an Bedeutung verlieren

und das soziale Klima nicht beginnt

alles zur nächsten Eiszeit zu gefrieren.

Es wäre wirklich schön, wenn ich diese Welt

nicht nur im Kopf erleben könnte

die Uhr ein bisschen langsamer tickte

sich nicht mehr jeder in Lügen verstrickte

Persönlichkeit den Besitz aus der Bewunderung kickte

die Ignoranz einen nicht ständig ins Herzchen zwickte

Wärme die seelischen Löcher flickte

und die Welt diesem traurigen Zustand entrückte.

Felicitas, 10b

Zur Autorin: Ute Basfeld ist Waldorflehrerin in Karlsruhe für Deutsch, Freie Religion und Zwölftklassspiel-Regie sowie Dozentin bei Logoi, Akademie für Sprachgestaltung, Schauspiel und Soziale Kunst, Mannheim

Literatur: Helena Müller, Jugendsprache im Wandel, München 2013