Maske waschen – Abstand tragen – Hände halten

Von Misha Würdenkraft, Dezember 2020

Ich habe keine Lust, Menschen zu misstrauen. Es vergällt mir das Leben. Ich habe keine Lust, meine Kollegen als Gegner zu sehen. Ich habe keine Lust, die uns Regierenden für Idioten oder für Schurken zu halten. Ich habe das Bedürfnis, mich mit jedem Menschen, der auf eine Sache eine andere Perspektive einnimmt oder der anders empfindet, zu verständigen. Ich habe keine Lust, an mir selbst zu erleben, dass ich in den Sog einer bestimmten Sichtweise gerate, selbst wenn sie die richtige sein sollte.

Ich habe aber auch keine Lust, mich selbst zu zensieren. Ich möchte nicht mehr hören, dass es solche Denkverbote doch gar nicht gäbe, weil doch jeder seine Meinung frei sagen könne. Das ist nicht wahr. Der Zustand ist eingetreten und wird auch von Schülern formuliert: Sie trauen sich nicht, im Klassenverband frei zu sprechen.

Ich ertrage den Widerspruch nicht mehr, dass ich laut Lehrplan Lektüren zu behandeln und über diese Lektüren Werte zu vermitteln habe, die allem, was wir gerade in den Schulen tun, entgegenstehen.

Was haben denn zig Jahrgänge von Oberstufen von Max Frisch, Bertolt Brecht oder Heinrich Böll, von Nelly Sachs und Paul Celan, von Goethe, Lessing oder Schiller und von deren Gedichten, Romanen und Dramen, sie interpretierend, lernen sollen? »Schiller würde Maske tragen« (C. Drosten)?

Nein, sie bestehen ihre Abiturklausur, wenn sie zutreffend herausarbeiten, dass sich Wolfgang Borcherts »Sag Nein!« gegen die Verleugnung des eigenen Gewissens wendet.

Sie bestehen ihr Abitur, wenn sie zutreffend herausarbeiten, dass es in Frischs »Andorra« um bequeme Feindbilder geht, die in uns allen stecken, und darum, den Mechanismus zu begreifen, der noch die dümmsten Stigmatisierungen moralisch gerechtfertigt erscheinen lässt.

Sie bestehen ihr Abitur, wenn sie bei Günter Grass und Juli Zeh oder bei den vielen DDR-Autoren herausarbeiten, dass es schleichende Entwicklungen, dass es die kleinen und stets »vernünftig« begründeten Schritte und Veränderungen sind, an denen man bemerken kann, wie Diktaturen entstehen und funktionieren.

Ich spreche mit Absicht von »Lust«. Denn es werden uns die seelische Leichtigkeit und der soziale Atem und es wird uns das Vertrauen genommen, und zwar inzwischen so nachhaltig, dass wir ein Szenario zu akzeptieren scheinen, in welchem es auch nach der Entwicklung eines Impfstoffs niemals mehr so werden wird wie vorher. Verwandlungen gehören gewiss zum Leben. Sie können mich sogar auf unerwartete Weise inspirieren. Aber ich will sie nicht nur passiv erleiden und als indirekten Zwang verkauft bekommen. Ich akzeptiere, dass es Krankheiten und dass es den Tod gibt, ich akzeptiere, dass sich nicht jedes Ideal verwirklichen lässt. Ich akzeptiere, dass es Schwellen im Leben gibt, und mir ist auch die Würde einer Freiheit bekannt, die in Pflichten besteht. Ich akzeptiere das Unvermeidliche. Aber ich akzeptiere nicht, dass wir willkürlich unser Leben zerstören, unser aller Freude, unsere Offenheit füreinander.

Wie kann es sein, dass wir in so vielen Bereichen gegenüber Minderheiten bis in die Sprache hinein empathischer, toleranter und achtsamer geworden sind, und jetzt Mitbürgern, die völlig berechtigte Sorgen und Fragen artikulieren, aggressive Etiketten verpassen und ihren Minderheitenstatus arrogant betonen? Bei jedem Geflüchteten, der eine Mordtat begangen hatte, beschworen wir zurecht, dass man die Umstände, die sich in der Nachbarschaft seines Lebens befinden, nicht boshaft zum Anlass nehmen dürfe, alle Geflüchteten pauschal zu diskreditieren. Aber mit Menschen, die aus gesundheitlichen und psychischen Gründen keine Maske tragen oder aus wissenschaftlichen Gründen die aktuelle Verwendung des Pandemie-Begriffs willkürlich finden, verfahren wir so? Ohne mit der Wimper zu zucken werfen wir sie allzu oft rhetorisch in einen Topf mit Rechtsextremen und legen habituell auf allen Kanälen nahe, dass sie letztendlich Mörder seien.

»Damit wir uns«, wie Wolf Biermann einmal sagte, »richtig missverstehen«: Ich kann absolut nachvollziehen, dass man aggressiv wird, wenn ein Mitmensch uns in Gefahr bringt oder eine selbstbewusste Angstlosigkeit zur Schau trägt, wo man selber eine tiefe Not hat. Aber das »Böse«, das hier wirkt, ist weder der eine Mensch noch der andere. Sondern das Böse steckt in der übergeordneten Situation. Die Maske bedient ein tückisches Narrativ: Wer sie nicht trägt, offenbart sofort seine Schlechtigkeit. Sofort aktiviert es unser Urteil. Hatten wir uns dies nicht gerade erst mühevoll abtrainiert? Den Anderen nach äußeren Merkmalen – Hautfarbe und Geschlecht, Behinderung oder Weltanschauung – vorzuverurteilen?

Eines könnten wir alle zusammen leisten, um den unerträglichen moralischen Totalitarismus zu überwinden oder zumindest einmal auszusetzen, um miteinander noch einmal zu atmen, um noch einmal einander frei und vertrauensvoll ins Gesicht zu blicken.

Jeder, der guten Willens ist, sollte sich einmal fragen: Was ist das für eine Macht und was ist das für eine Situation, die uns in diesen Krieg aller mit allen drängt? Was ist dies für eine Macht, die Eltern, die sich bisher verstanden, plötzlich gegeneinander positioniert? Was ist dies für eine Macht, die Schulführungen dazu nötigt, Buhmänner und Buhfrauen für andere sein zu müssen, weil sie, um Schließungen zu vermeiden, schwierige Regeln durchsetzen müssen? Was ist das für eine Macht, die unsere Gesprächsthemen verengt, die bestimmte Gefühle wie die Furcht vor schwerer Erkrankung in manchen Seelen so stark werden lässt, dass sie mutiert zu Hass und Zorn auf die vermeintliche Rücksichtslosigkeit Anderer, die doch ihrerseits auch von Sorgen erfüllt sind, nämlich von echter Angst um die gesunde Entwicklung ihrer Kinder? Was ist das für eine Macht, die unsere Gefühle und Ängste hierarchisiert und uns verleitet, sie bei dem Mitmenschen abzuwerten und entweder als ideologisch motiviert oder als übertrieben abzutun?

Diese Macht ist nicht das Virus. Es ist nicht die »Pandemie«, die uns all das auferlegt. Nicht in dieser Maßlosigkeit. Es sind wir selbst, die all dies entscheiden und mittragen und verantworten.

Warum?

Zum Autor: Misha Würdenkraft ist Oberstufenlehrer für Geschichte und Deutsch an einer Waldorfschule in Ostdeutschland.

Kommentare

Svenja Herget, 06.12.20 14:12

Danke für diesen offenen und kritischen Beitrag! Ich hatte früher oft gedacht, ich hätte in meinem Gymnasium Anfang der 80er Jahre nicht viel gelernt. Doch in den vergangenen Monaten wurde mir bewusst, dass das dortige kritische Hinterfragen, das Lesen der Werke "1984" und "Brave New World", das häufige Verfassen von Erörterungen mit These-Antithese-Synthese, die vielen Diskussionen über das 3. Reich und vieles mehr dazu beigetragen haben, dass ich heute selbstständig denke und den Mut habe, auch Kritik zu äußern. Wenn ein Schüler sich nicht mehr trauen kann, das offen zu sagen, was er denkt, dann läuft etwas gehörig schief. Und dann muss auf einer Lehrerkonferenz darüber gesprochen werden.

Mandy Hartung, 06.12.20 14:12

Ich bedanke mich herzlich für diese Worte.

Christopher Lindemann, 06.12.20 19:12

Ganz lieben Dank für die so nötige und lange überfällige Erhebung der Stimme der Waldorflehrer! Es erschien mir schon fast, als müssten wir über eine neue Positionierung der Waldorfpädagogik nachdenken. Der Beitrag erschafft nun einen Eintrittsraum für das, was ohnehin der wichtigste Beitrag der Waldorfpädagigik in der Welt ist. Wer ihn gelesen hat muss nicht fragen, was ich damit meine! Nochmals, von Herzen: Danke!

Kathleen Janik, Steinburg, 06.12.20 20:12

Ich bin tief berührt von diesen Worten!
Vielen Dank für den wertvollen Beitrag!

Tanja Schlag, 06.12.20 21:12

Von Herzen Dank für diese wahren und deutlichen Worte von einem Oberstufenlehrer! Sie sprechen mir aus der Seele!

Markus Bremshey, 06.12.20 21:12

Lieber Herr Würdekraft,

ganz wunderbar. Ich danke Ihnen ganz herzlich für diesen so treffenden Beitrag. Sie bringen es genau auf den Punkt.

Herzliche Grüße
Markus Bremshey

Erasmus Spitta, 06.12.20 22:12

Sehr herzlichen Dank für diesen sehr guten Beitrag und die wichtigen Fragen und Gedanken!

Peter Schultze, Hamburg, 07.12.20 10:12

Sehr geehrter Herr Würdenkraft,

Ihren Text habe ich mit großem Interesse gelesen. Viele Aussagen teile ich und gehe deswegen darauf nicht weiter ein, weil ich sehe, dass Sie bereits viel verstärkende Resonanz durch Zuschriften erfahren habe.

Es gibt aber ein paar Punkte, zu denen ich gern ein paar Fragen loswerden würde:

Wie kann es sein, dass Waldorfschüler*innen das Gefühl haben, sich wegen Corona nicht mehr frei äußern zu können? Ich unterrichte an einem Hamburger Gymnasium und das Pandemie-Thema ist - besonders natürlich im Biologie-Unterricht, aber auch in vielen anderen Fächern - ständig präsent - gerade auch wegen der Maskenpflicht in der Schule und anderen Auflagen. Alle meine Schüler*innen dürfen Bedenken und Fragen jederzeit äußern - das halte ich für dringend geboten und auch selbstverständlich. Manchmal teile ich ihre Bedenken sogar und sage das auch deutlich. Trotzdem gilt aber immer das, was die Schulleitung in Absprache mit den entsprechenden Gremien der Schule beschlossen hat, auch für die Schüler*innen und Kolleg*innen, die manche Maßnahmen für unangemessen oder falsch halten, darauf verweise ich. Wenn an Ihrer Schule Schüler*innen sich nicht mehr trauen, ihre Meinung zu sagen, läuft m.E. etwas falsch. Was das ist, sollten Sie dringend herausfinden und ändern.

Genau wie in der Schule, sollte es nach meiner Ansicht auch in anderen Bereichen des Lebens laufen: Das Recht Fragen zu stellen und Maßnahmen anzuzweifeln, hat jede(r). Aus diesem Recht aber abzuleiten, Anweisungen zum Schutz anderer mit dem Hinweis auf das eigene Gewissen nicht einhalten zu müssen, ist falsch. Wir leben in einer Demokratie, die sich keinesfalls auf dem Weg zur Diktatur befindet, wie Sie im 6. Absatz Ihres Artikels anzudeuten scheinen. Zweifel sind erlaubt, berechtigen aber nicht dazu, mit Hinweis auf das eigene Gewissen das Leben und die Gesundheit anderer Menschen zu gefährden. (Die subtile Verbindung der Frage des Maskentragens mit dem Stichwort "Gewissen" finde ich übrigens mehr als heikel, aber das ist eine andere Diskussion.)

"Hatten wir uns dies nicht gerade erst mühevoll abtrainiert? Den Anderen nach äußeren Merkmalen – Hautfarbe und Geschlecht, Behinderung oder Weltanschauung – vorzuverurteilen?" schreiben Sie. Sehen Sie nicht den Unterschied oder wollen Sie ihn nicht sehen? Hautfarbe, Geschlecht und/oder Behinderung sind unveränderliche Kennzeichen, die ein Mensch von seiner Geburt bis zum Tod trägt - diese Kennzeichen dürfen niemals ein Grund für Verurteilungen sein, da gebe ich Ihnen vollkommen Recht. Weltanschauung und auch das Tragen von Masken oder nicht fallen in eine vollkommen andere Kategorie. Das müsste Ihnen als Deutsch- und Geschichtslehrer klar sein. War die unzulässige Gleichsetzung Absicht? Ich hoffe nicht!

Mit freundlichen Grüßen

Peter Schultze

Marian Götting, Bad Oldesloe, 07.12.20 11:12

Ich möchte mich von Herzen für diese langersehnten Worte von einem Waldorflehrenden bedanken. Sie sprechen mir aus meiner wunden Seele.

Martina Lederer, Berlin, 07.12.20 20:12

Ich schliesse mich direkt den Worten von Marian Götting an.
Als direkt Betroffene in Bezug auf Maskenbefreiung meiner Kinder haben mich Ihre Ausführungen zu Tränen gerührt. Ein Hoffnungsschimmer am dunklen Horizont! Mögen Ihre Worte auch bei den Menschen ankommen, deren Herzen sich scheinbar vor lauter Angst verschlossen haben.

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