Materie oder Matrix? Das Interesse Jugendlicher an philosophischen Fragen

Rita Schumacher

Es sind die ganz großen Themen, die Anklang finden: die Frage nach dem Bewusstsein und die nach den ontologischen Kategorien Raum und Zeit.

Platos Höhlengleichnis ist für viele Schüler ein einschneidendes Bildungserlebnis. Das darin ins Bild gebrachte Problem der Realität wird als aktuell und brisant erlebt. Schüler verweisen zum Vergleich oft auf zeitgenössische Filme wie »Inception«, »Matrix« oder »Cloud Atlas«, die sie als themenverwandt erkennen. Offensichtlich steht heute das durch Subjekt-Objekt-Beziehungen definierte Wirklichkeitsverständnis bis in den Alltag und in die Unterhaltungskultur hinein zur Disposition. Die Grenzen der Wirklichkeit zur Welt des Traumes, zu den medialen und innerseelischen Bilderwelten und sogar zum Bereich des Todes verschwimmen.

Verschiedene Seinsbereiche oder Wirklichkeiten spielen ineinander, so dass eine sichere Beheimatung im »Hier und Jetzt« problematisch erscheint. Gleichzeitig besteht ein erhebliches Bedürfnis nach Bewusstseinsklarheit in diesem fluktuierenden Gebiet. Hier ist philosophisches Denken gefragt, das bis an die Grenzen der anschaulich fassbaren, räumlich geordneten Welt vordringt. Die Kategorie des Zeitlichen beschäftigt viele Jugendliche sehr stark – gleichsam als sei sie die einzig verbliebene »Terra incognita«, ein Reich voller unentdeckter, noch zu hebender Schätze, zugleich aber ein Land ohne festen Boden, ein Nicht-Ort, der nur metaphorisch verräumlicht werden kann.

Der andere Pol des philosophischen Interesses vieler Jugendlicher ist die Beschäftigung mit dem Bewusstseinskern. Das zeigt sich etwa bei der Auseinandersetzung mit der Fichteschen Philosophie, die dem Ich Tatcharakter zuerkennt. Oft wird in Gesprächen deutlich, dass Jugendliche in der inneren Beobachtung ihren Wesenskern nicht als determiniert erleben. Es widerspricht ihrer Selbstwahrnehmung, sich als bloßes Erzeugnis von Vererbung und Sozialisation zu betrachten.

Auch die unterschiedlichen Seelenanteile und deren Kräftewirken sind ein fesselndes Beobachtungsfeld für Jugendliche. Befeuernd wirkt hier erfahrungsgemäß die Beschäftigung mit »Apollo« und »Dionysos«, wie sie Nietzsche in der »Geburt der Tragödie« beschreibt. Die von Nietzsche ins mythische Bild gebrachte Entstehung der griechischen Tragödie gleicht dem Drama der Individuation, wie es die Jugendlichen selbst erleben. Sie »kennen« Apollo und Dionysos aus ihrem eigenen Inneren. Sie erkennen diese Tendenzen in inneren und kulturellen Vorgängen wieder. Die mit solchen Betrachtungen beginnende seelische Beobachtung fasziniert sie.

Das philosophische Interesse der Jugendlichen hat mitunter etwas von der frühneuzeitlichen Suche nach dem »Stein der Weisen« an sich, dem Universalmittel, welches alles Gegebene in einen neuen Seins-Zustand erhebt. Novalis hat es in seinen philosophischen Fragmenten treffend dargestellt: Dieses Universalmittel ist das menschliche Ich. Der alchemistische Vorgang der Jugend bestünde dann darin, das fragwürdig Gewordene durch einen innerseelischen Verwandlungsprozess in der Urteilsbildung zu etwas Eigenem zu machen und damit wieder sicheren Boden zu gewinnen.

Das Mittel dazu sind radikale philosophische Fragen, sokratische Fragen, die helfen, das denkende Subjekt zur Welt zu bringen. Philosophie kann so zum Mittel der Individuation werden.

Zur Autorin: Rita Schumacher ist Oberstufenlehrerin für Deutsch und Geschichte an der Freien Waldorfschule Kassel und Mitarbeiterin des Lehrerseminars für Waldorfpädagogik Kassel.