Mathematik und die Sehnsucht nach dem Übersinnlichen

Christoph Kühl

Die Einheit der Welt als Ausgangspunkt

Wie führt man Zahlen in der Waldorfpädagogik ein? Man geht von der Einheit aus. Das entspricht dem kindlichen Erleben der Welt, denn das Kind ist eins mit der Welt. Alle weiteren Zahlen, die Zwei, die Drei und so weiter entstehen durch die Gliederung der Eins. Für die Eins könnte man das Bild des ganzen Tages nehmen, der sich als Zwei in Tag und Nacht gliedert. Oder für die Vier das Jahr, das sich in die Jahreszeiten gliedert. Für die Fünf das Bild der Rose mit ihren fünf Blütenblättern. Das Gegenteil dieses Ansatzes wäre, die Eins zu wiederholen: 1+1 ist 2, 1+1+1 ist 3 usw. Irgendwann entgleiten die Zahlen ins Unendliche.

In der Waldorfschule wird das Ganze also durch die Zahlen gegliedert. Der Klassenlehrer ist sehr gefordert, Beispiele für diese Gliederungen zu finden, die in einer Sache begründet liegen, zum Beispiel, dass der Regenbogen sieben Farben hat, oder das Jahr zwölf Monate. Der Gedanke, das Ganze zu gliedern, begleitet das Rechnen in der Unterstufe fortwährend. So wird auch das Addieren nicht so eingeführt, dass drei plus fünf acht ist, sondern acht ist gleich drei plus fünf, aber auch vier plus vier und so fort. Dabei lernt das Kind unbewusst die Qualitäten der verschiedenen Zahlen kennen. Eine Zwölf lässt sich anders gliedern als eine Sieben. Dadurch gewinnt das Kind eine persönliche Beziehung zu den Zahlen. Jede Zahl bekommt ihren besonderen Charakter und dieser Charakter kann innerlich immer wieder aufgefunden werden. Die Zahlen entgleiten dabei eben nicht ins Unendliche. Man kann zwar, wenn die Kinder anfangen, mit Zahlen zu rechnen, Kastanien zu Hilfe nehmen, aber die Drei ist keine Kastanie in dreifacher Ausgabe, sondern eine eigene Zahl. Und dazu muss man die Kinder bringen. Das heißt, ohne Kastanien zu rechnen. Das Kind muss die Möglichkeit bekommen, die nichtsinnliche Seite einer Zahl zu erleben. Wir haben beim Rechnen die Aufgabe, das Bedürfnis des Kindes nach einer nichtsinnlichen Wahrnehmung der Zahlen zu befriedigen. Dieses Bedürfnis ist beim Kind genauso ausgeprägt wie das Bedürfnis nach sinnlicher Anschauung. Es ist ein seelisches Grundbedürfnis des Kindes nach Nichtanschaulichkeit und Nichtsinnlichkeit, dem die Mathematik bzw. das Rechnen entgegenkommt.

Was bedeutet es umgekehrt für den Menschen, wenn er eine Zahl als Produkt einer Addition kennenlernt? Sie veranlagt eine Denkform, die anhäufend additiv ist, tendenziell ins Unendliche geht und im Grunde rein quantitativer Natur ist. Was bedeutet das sozial? Es ist ein Unterschied, ob man die Zahlen kennenlernt, indem man ein Ganzes gliedert, oder ob man sie so kennenlernt, dass sie sich additiv fortführen lassen bis ins Unendliche. Alle sozialen Probleme entstehen doch nur deshalb, dass man sie als Summe von Einzelheiten erfasst, aber nicht als Glied eines Ganzen.

Es geht also in den unteren Klassen darum, im Mathematikunterricht eine bestimmte Denkform anzulegen, die nicht in egoistisch anhäufender Weise verfährt.

Zahlenreihen sind auch gut für das Gedächtnis

Die Kinder lernen Reihen. Wenn wir als Mathematiker das große Glück haben, auf eine Monatsfeier zu gehen, dann hören wir dort Kinder die Reihen sagen. Die Klasse ist in Gruppen gegliedert, die eine spricht die Zweierreihe, die andere die Dreierreihe usw. Das ist ein ungeheures Erlebnis, weil man merkt, welche unterschiedlichen Qualitäten diese Reihen haben. Zum Beispiel hat die Fünferreihe etwas Einfaches, Schlichtes. Wenn wir dagegen die Siebenerreihe hören, so klingt sie doch wesentlich interessanter. Das heißt, die Kinder entwickeln ein Gefühl für das Besondere der Zahlenreihen. Wenn wir ein solches Zahlenreihenpanorama haben, dann gibt es da ganz besondere Zahlen dazwischen, wo keiner spricht: zum Beispiel die 37.

Also, die Kinder bekommen nicht nur ein Verhältnis zu den einzelnen Zahlen als nicht anschaulichem Seeleninhalt, sondern sie bekommen auch ein besonderes Qualitätsverhältnis zu den Zahlenreihen. Das stabilisiert ungemein das Verhältnis zu den Zahlen. Diese Vorgehensweise, die an den Waldorfschulen praktiziert wird, stärkt das Gedächtnis. Der Mathematikunterricht in den unteren Klassen dient vorrangig der Gedächtnisbildung.

Wenn es um eine Wesensbegegnung mit den Zahlen geht, ist es berechtigt, die Kinder gleichsam verständnislos rechnen zu lassen. Denn ein Kind lernt nicht nur über das Verstehen, der Mensch lernt dadurch, dass er die Sachen macht. Diesem Umstand trägt man in der Waldorfpädagogik Rechnung, indem man in den unteren Klassen im Rechnen nichts erklärt, sondern tut, übt.

Die Zahlenwelt gehört der Innenwelt des Menschen an. Es ist die Aufgabe, Kinder ihre Innenwelt erleben zu lassen. Diese Seelenwelt ist zugleich das Zentrum der Phantasie. Wenn wir den Kindern nicht die Möglichkeit geben, diese Innenwelt überhaupt kennenzulernen, behindern wir die Ausbildung der Phantasie. Die Phantasie entzündet sich zwar an der Außenwelt, sie ist aber ein innerseelisches Erlebnis. Mit der Zahlenwelt wird also die Seeleninnenwelt erschlossen und strukturiert. Durch das Üben der Zahlenreihen erfahren die Kinder erst die Qualität der einzelnen Zahlen. Darauf baut aller Mathematikunterricht auf.

Brüche am Rubikon

In der vierten Klasse verändert sich das Verhältnis des Kindes zur Zahlenwelt. Mit der zunehmenden Distanzierung des Kindes von der Welt wird es Zeit, eine neue Rechenart kennenzulernen. Jetzt wird nicht mehr gegliedert, sondern gebrochen. Das Kind erlebt im Rechnen, was es in seinem veränderten Verhältnis zur Außenwelt erlebt: Die Einheit mit der Welt ist zerbrochen. Ein ganz einfaches Beispiel: Ein Stock wird in der Mitte gebrochen. Dieses Brechen muss erlebt und im Rechnen gelernt werden. Die Gesetzmäßigkeiten des Bruchrechnens werden über ein Bild vermittelt. Es ist gar nicht so wichtig, ob ein Fünftklässler genau versteht, was bei der Rechnung zwei Drittel mal zwei Fünftel herauskommt (das versteht er unter Umständen in der neunten Klasse auch noch nicht), sondern dass er in diese innere Geste des Brechens hineinkommt. Auch beim Bruch­rechnen arbeitet der Lehrer sehr stark über das Gedächtnis.

Negative Zahlen und der Mangel in der Pubertät

In der siebten Klasse sind die Schüler mitten in der Pubertät, es treten ganz neue innere Seelenregungen, Sehnsüchte, aber auch Mangelerscheinungen auf. Erst da kommt man, im Gegensatz zu den staatlichen Schulen, in den Waldorfschulen zu den negativen Zahlen. Die Beschäftigung mit negativen Zahlen entspricht dieser neuen seelischen Verfasstheit.

Was ist eine negative Zahl? Nichts wäre verheerender, als wenn wir versuchen würden, eine negative Zahl durch eine äußere Anschauung zu vermitteln. Die negative Zahl muss erlebt werden. Wenn wir fünf haben und eines weggeben, dann haben wir noch vier. Wenn wir zwei weggeben, haben wir nur noch drei. Und wenn wir mehr weggeben, als wir weggeben können, dann haben wir einen Mangel. Und dieses seelische Mangelerlebnis steckt hinter der negativen Zahl.

Bei Hitze eine Radtour machen: Stellen wir uns vor, wir radeln einen ganzen Tag und haben zu wenig zu trinken. Wir kommen abends nach Hause und trinken drei Flaschen Wasser. Dann wissen wir, was minus drei ist. Dieses Erlebnis ist entscheidend für das Erfassen einer negativen Zahl und nicht, wenn wir auf dem Temperaturmesser minus drei Grad haben. Das hat mit diesem inneren Erlebnis überhaupt nichts zu tun. Das ist völlig willkürlich festgelegt.

Noch verheerender ist, wenn man den Schülern einen Zahlenstrahl vorlegt, auf dem die negativen Zahlen über die Null weg weiter nach links gehen und die positiven Zahlen einfach weiter nach rechts. Selbstverständlich kann man einen Zahlenstrahl bei älteren Schülern einführen. Aber, wenn man den Schülern ein Zahlenverhältnis vermitteln will, das mit der seelischen Verfasstheit eines Siebtklässlers korrespondiert, dann hat der Zahlenstrahl an dieser Stelle nichts zu suchen. Also, was macht man eigentlich in der Mathematik? Ein innerseelisches Geschehen führt man in einen Gedanken über. Das heißt, der Mathematikunterricht an der Waldorfschule begleitet die Entwicklung des Schülers gedanklich. Und das kennt wohl jeder: Wenn man etwas in eine Gedankenform bringt, wird man immer ein Stückchen freier. Voraussetzung ist, dass ein inneres Verhältnis zu den Zahlen vermittelt werden konnte. Liegt dies nicht zugrunde, können auch keine Gedanken dazu gebildet werden.

Die ordnende Kraft des Denkens im Chaos

Rudolf Steiner macht für die achte und neunte Klasse die Lehrplanangabe: Kombinatorik. Nehmen wir ein einfaches Beispiel. Wir haben vier Glocken, jede Glocke läutet einmal. Wie viele Möglichkeiten, die Glocken hintereinander zu läuten, gibt es? Auch wenn das Beispiel überschaubar scheint, es ist nicht auf Anhieb lösbar. Welche Möglichkeiten hat die erste Glocke? Sie kann an erster, zweiter, dritter, vierter Stelle läuten. Also, die erste Glocke hat vier Möglichkeiten. Jetzt ist sie an der ersten Stelle. Welche Möglichkeiten hat die zweite Glocke? Sie hat drei Möglichkeiten, aber Achtung, sie hat auch noch drei Möglichkeiten, wenn die erste Glocke später kommt. Das heißt, an jeder dieser Stellen, an denen die Glocke eins läutet, gibt es noch zwei, drei andere Möglichkeiten. Das heißt letztendlich, Sie haben 24 Möglichkeiten aus vier Glocken eine Melodie zu machen. Oder bei vier Menschen, die in einem Raum sitzen, haben sie 24 Möglichkeiten, sie anders zu setzen. Wenn Sie das einmal mit Schülern ausprobieren, entsteht natürlich sofort Chaos, planmäßig. Dass diese vier Schüler tatsächlich, obwohl es sich nur um vier Sitzplätze handelt, die 24 Möglichkeiten herausfinden, ist unwahrscheinlich. Schon allein deshalb, weil man sich gar nicht die schon abgesessenen Möglichkeiten merken kann – bei der vierundzwanzigsten Möglichkeit wären das immerhin dreiundzwanzig Variationen. Doch diese sogenannten Permutationen sind gedanklich voll durchschaubar.

Die Beschäftigung mit der Kombinatorik hilft im Chaos dieses Lebensalters, sich gedanklich zu orientieren. Das Denken tritt ordnend ein und zwar in elementarer Form. Kombinatorik ist keine Spielerei. Das heißt, wir haben in der Mathematik der neunten Klasse eine nichtanschauliche Begegnung mit der Welt. Pädagogisch zentral ist hier für die Schüler, die ordnende Kraft des Denkens zu erleben.

Das Erlebnis, objektive Gedanken hervorzubringen

Im Waldorflehrplan bleibt die Geometrie sehr lange von der Zahlenseite getrennt. Erst in der zehnten, elften Klasse beginnt man, die Geometrie mit der Algebra zu verbinden. Das liegt daran, dass die Schüler in der achten, neunten Klasse noch nicht anschaulich mathematisieren sollen, sondern noch verbunden sein sollen mit dem, wo sie seelisch stehen. Denn wenn wir eine geometrische Formel nehmen, haben wir sofort eine bestimmte geometrische Figur vor uns, die es in dieser reinen Form in der Außenwelt natürlich gar nicht gibt. Entscheidend ist, dass die Schüler die kurvenbildende Kraft erleben.

Wenn zum Beispiel der Differentialquotient, das Hauptthema der zwölften Klasse, behandelt wird, gibt es zwei Wege: der eine ist der ganz anschauliche, und der andere ist der ganz unanschauliche aus den Zahlen heraus. Hier wird besonderer Wert darauf gelegt, dass zuerst der unanschauliche Weg gegangen wird, bevor der anschauliche kommt. Es soll also das Nichtanschauliche nicht illustriert werden. Wir begleiten das Kind mathematisch auf der nichtanschaulichen Seite. So vorzugehen, wirkt gedankenbildend für das ganze Leben. Es kommt darauf an, die mathematischen Grundgesten aufgenommen zu haben und diese sind menschenbildend.

Das Wesentliche an der Mathematik ist das Erlebnis, Gedanken selbsttätig hervorzubringen, die zugleich vollkommen objektiv sind. Im Unterricht muss erlebt werden können, dass die Seele etwas nicht äußerlich in der Welt Vorhandenes hervorbringt. Denn die menschliche Seele dürstet nach mehr als nach der Anschauung. Wir haben als Mathematiklehrer an der Waldorfschule die Aufgabe, die Entwicklung der Kinder mit entsprechenden Denkformen zu begleiten, und den Schülern die Erfahrung und das Erlebnis mitzugeben, einen Teil ihrer Seele kennenzulernen, der nicht anschaulich ist. Es geht in der Mathematik darum, gedanklich frei vom Sinneseindruck zu werden.

Zum Autor: Dr. Christoph Kühl ist Mathematiklehrer an der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe in Stuttgart; redaktionell bearbeiteter Vortrag.