Ausgangsmaterial für die Analyse ist der Text von »Max und Moritz« und – mit gutem Grund – nicht die Bilder. Busch handelt nicht nur als Kritiker der kleinbürgerlichen Welt seiner Zeit, sondern – wie nachzuweisen ist – als wahrer Esoteriker. Die Bilderzeichnungen stellen nur die Oberfläche dar, eine Scheinwelt, mit der das Auge getäuscht werden soll, um den verborgenen geistigen Gehalt der Geschichte zu schützen. Auf den ersten Blick mag das weit hergeholt erscheinen, doch zieht man Buschs Gesamtwerk in Betracht, wird deutlich, dass kein Zufall vorliegt. Es ist vielmehr so, dass »Max und Moritz« den Teil einer Trilogie darstellt – vielleicht den am schwersten zu durchschauenden. Die anderen beiden Teile sind »Die fromme Helene« und »Die Versuchung des heiligen Antonius«. Das verbindende Grundmotiv dieser Trilogie ist die Auseinandersetzung mit Sein und Schein.
Max und Moritz als Wesensbild
Im Zentrum der Bildergeschichte stehen Max und Moritz. Wer sind sie? Sie können aufgefasst werden als das Bild einer in Polarität gefangenen Seele (»Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust ...«, Goethes Faust), als das Urdrama des Menschen. Nun muss man zugeben, dass diese Polarität bei Max und Moritz, die ja praktisch immer »im Doppelpack« auftreten und im Vergleich zueinander wenig individualisiert sind, nur in der Anlage vorhanden ist, denn es handelt sich um eine noch junge Seele.
Diese Seele strebt in ihrer Weise der Reifung entgegen, in einer Welt, die für sie nur Unverständnis aufbringt:
Max und Moritz machten beide,
Als sie lebten, keinem Freude.
Die junge Seele leidet darunter, in ihrem Sein verkannt zu werden, und lehnt sich auf gegen die feindliche, man muss sagen verbürgerlichte Welt:
Menschen necken, Tiere quälen,
Äpfel, Birnen, Zwetschgen stehlen
Das ist freilich angenehmer
Und dazu auch viel bequemer,
Als in Kirche oder Schule
Festzusitzen auf dem Stuhle.
Ihre Reifung vollzieht sich in sieben Stufen, die »Streiche« genannt werden, und Prüfungen der Seele auf ihrem Entwicklungsweg sind: Sie entwickelt sich gerade dadurch, dass sie in eine Auseinandersetzung mit der äußeren Welt tritt und damit an Differenziertheit und Kraft gewinnt. Wenn man dem Begriff »Streich« nachsinnt, zeigt sich einem eine gewisse Leichtigkeit, etwas Flüchtiges und Spielerisches – eine Qualität, welche die Begegnungen der Seele mit der Welt charakterisiert. Und auch die Welt geht aus diesen Begegnungen nicht unberührt hervor!
Witwe Bolte – erster und zweiter Streich
Witwe Bolte ist – neben der nur namentlich als hilfreicher Geist erwähnten Frau Böck –, die einzige Frau in der Geschichte. Allerdings sind ihr – wie als Entschädigung – zwei Streiche gewidmet. Sie ist Witwe, also ihres Partners beraubt und ganz auf sich gestellt in einem sichtbar begrenzten Lebensraum. Was an männlichen Elementen bleibt, ist der »stolze Hahn«. Der Familienname Bolte verweist klanglich auf die Stumpfheit und Dumpfheit ihres Seins, das sich nur in der niedersten Ausprägung wiederfindet, nämlich in dem Federvieh, dessen Verlust sie beklagt:
Fließet aus dem Aug, ihr Tränen!
All mein Hoffen, all mein Sehnen,
Meines Lebens schönster Traum
Hängt an diesem Apfelbaum!
Dem Gesetz des Lernens vom Schicksal entsprechend muss sie den Verlust – da sie sich nicht lernwillig zeigt – ein zweites Mal erleiden. Doch auch hier bleibt sie unfähig zur Wandlung, stattdessen projiziert sie ihre Unfähigkeit als Wut und Verzweiflung auf ihren treuen Begleiter, den Spitz:
»Spitz!«? Das war ihr erstes Wort.
»O, du Spitz, du Ungetüm!
Aber wart, ich komme ihm«!
Mit dem Löffel groß und schwer
Geht es über Spitzen her …
der ob seiner Artikulationsunfähigkeit zum Opfer wird. Was hat die Seele ihrerseits geleistet? Sie hat die träge Erdgebundenheit durch List und Schlauheit (Fadenkreuz!), aber auch durch Mut (Erklettern des Daches) überwunden. Sie, die Seele, Max und Moritz, geht sichtbar und hörbar gestärkt daraus hervor …
Max und Moritz im Verstecke
Schnarchen aber an der Hecke.
Und vom ganzen Hühnerschmaus
Guckt nur noch ein Bein heraus.
… und wappnet sich für den nächsten Schritt.
Schneider Böck – dritter Streich
Dieser Streich zeigt, wie die durch Schneider Böck verkörperte kopfgebundene Intellektualität, überwunden wird:
Oder wäre was zu flicken,
Abzuschneiden, anzustücken,
Oder gar ein Knopf der Hose
Abgerissen oder lose
Wie und wo und was es sei,
Hinten, vorne, einerlei
Alles macht der Meister Böck,
Denn das ist sein Lebenszweck.
Drum so hat in der Gemeinde
Jedermann ihn gern zum Freunde.
Nicht nur sein Gebaren, sondern eben auch sein Name erinnert an den Bock, den Ziegenbock, der ja Vertreter ist für gewissenloses, machiavellistisches Denken. Ich erinnere an den Ziegenbock im Märchen »Tischlein deck’ dich…«. Entsprechend wird er ja auch von Max und Moritz entlarvt:
»He, heraus, du Ziegen-Böck!
Schneider Schneider, meck, meck, meck!«
Solch trockenes Denken, das jegliche Kombination erlaubt, weil es bar jeglicher Moral ist, muss dem Element des Wassers ausgeliefert werden, wenn es an Lebendigkeit gewinnen soll. Die angesägte Brücke ist ein Bild für die in Wahrheit brüchige Logik. Die Seele führt die Gesetze der Logik ad absurdum. Die Rettung geschieht durch die Integration des Luftelements (im Bild der Flugenten) und der Wärme (im Bild des Bügeleisens von Frau Böck), doch es fehlt das Element der Erde zur Umkehr und Einsicht:
»Jajaja!« rief Meister Böck, (nach der Erlösung der Seele)
«Bosheit ist kein Lebenszweck«!
Lehrer Lämpel – vierter Streich
Nicht allein im Schreiben, Lesen
Übt sich ein vernünftig Wesen;
Nicht allein in Rechnungssachen
Soll der Mensch sich Mühe machen;
Sondern auch der Weisheit Lehren
Muss man mit Vergnügen hören.
Dass dies mit Verstand geschah
War Herr Lehrer Lämpel da.
Lehrer Lämpel ist Lehrer und Autorität, steht über dem gemeinen Volk. Seine einzigen Leidenschaften (die Schwachstellen, durch die er verwundbar wird) sind der »Tobak« und das sonntägliche Orgelspiel, das ihn allerdings in keiner Weise in höhere Sphären trägt, sondern nur seinem Ego dient. Und hier können Max und Moritz »angreifen«. Sein wahres Wesen wird durch seinen Namen verdeutlicht. Er ist keine Leuchte für die Menschheit, sondern eine kleine Lampe, ein Lämpel eben, ein an den Forderungen des Schicksals Gescheiterter. – Mit dem Lehrer Lämpel, dem berühmten Vertreter eines biederen Bildungsideals, muss sich die Seele in ihrer vierten Prüfung auseinandersetzen. Es ist ihre Feuerprobe, die sie bravourös bewältigt. Der Anschlag auf das veraltete Bildungswesen gelingt …
Kaffeetopf und Wasserglas,
Tabaksdose, Tintenfass,
Ofen, Tisch und Sorgensitz
Alles fliegt im Pulverblitz.
… und bringt es – zumindest vorübergehend – zum Erliegen. Hier wagt sich die Seele auf eine Gratwanderung, die auch hätte scheitern können, dadurch, dass sie den Gegner vernichtet, anstatt ihm die Chance zur Wandlung einzuräumen. In diesem möglichen Scheitern spiegelt sie den Menschen in seiner wesensbedingten Tragik. Sie gewinnt jedoch und kann weiterschreiten.
Onkel Fritz – fünfter Streich
Bei Onkel Fritz – er ist der einzige »Verwandte« unter den vier namentlich genannten – stellt sich schon durch seinen Namen sofort Vertrautheit und eine gewisse Sympathie ein, auch wenn die Erwartung auf ein späteres Erbe (Onkel Fritz ist Junggeselle) bei den nicht genannten ihm Nahestehenden mitschwingen mag.
Wer in Dorfe oder Stadt
Einen Onkel wohnen hat,
Der sei höflich und bescheiden;
Denn das mag der Onkel leiden.
Gerade wenn es um den Onkel Fritz geht, wird die wahre Bedeutung von »Streich« als liebevoller Veränderungsimpuls deutlich. Durch die Feuerprobe gereinigt, wendet sich die Seele sensibleren Bereichen der Verwandlung und der Mittel zu. Zum Einsatz kommen Käfer, die in der Art ihres Wirkens an Dämonen erinnern, welche der Onkel zu überwinden hat, denn auch der Gute hat gerade seine Bequemlichkeit zu besiegen und zu seinem wahren Ich zu finden:
Oder kommt er spät nach Haus,
Zieht man ihm die Stiefel aus,
Holt Pantoffel, Schlafrock, Mütze,
Dass er nicht im Kalten sitze.
Kurz, man ist darauf bedacht,
Was dem Onkel Freude macht.
Max und Moritz ihrerseits
Fanden darin keinen Reiz.
Dies kann er nur leisten, indem er aktiv sein Schicksal ergreift:
Onkel Fritz, in dieser Not,
Haut und trampelt alles tot.
Das heißt, der Onkel hat sich all des Käferartigen zu entledigen: Hilflosigkeit, Plumpheit, Schalenhaftigkeit – man denke an Kafkas »Verwandlung« –, um zum wahren Menschsein zu gelangen. Angesichts des sich dann einstellenden Schlafes als Integrationsphase für das Gelernte mag man ihm das – gerne – zutrauen.
Bäckersleute – sechster Streich
Beim sechsten Streich rückt wieder die Seele in den Vordergrund, die hier kathartische Zustände durchleiden muss – Phasen von Schwarz und Weiß, indem sie die Abgründe der Hölle (»schwarz wie Raben«) und der Verklärung (»weiß wie Kreide«) durchmacht, bevor sie in die Verpuppung (Kuchenteig) gerät, von der sie sich – schmetterlingsgleich – befreit und emanzipiert:
Jeder denkt: die sind perdü!
Aber nein – noch leben sie.
Knusper, knasper! wie zwei Mäuse
Fressen sie durch das Gehäuse …
Die Bäckersleut’ sind hier die Meister, die den Einweihungsvorgang begleiten und ermöglichen. Sie bleiben namenlos, denn sie sind die überindividuellen Werkzeuge des Erlösungswerkes und nicht dem Lebenslernen überantwortete Repräsentanten des Mensch-Seins wie die vorher genannten.
Vollendung – siebter Streich
Die Vollendung des Weges ist noch nicht abgeschlossen, die Polarität ist noch vorhanden. Dieser letzte, schmerzvolle Schritt ist erst im Tod möglich, wenn alle menschlichen Strukturen aufgelöst, »geknackt« sind:
Hier kann man sie noch erblicken
Fein geschrotet und in Stücken.
Doch sogleich verzehret sie
Meister Müllers Federvieh.
Bemerkenswert, dass hier wieder das Federvieh auftaucht. Hier wird einerseits der Kreislauf des Lebens angesprochen – vergehen und werden. Andererseits werden auf subtile Weise Auferstehung und Verklärung thematisiert. Nichts Irdisches bleibt mehr.
Natürlich wird im Dorf, das heißt, auf der Erde, über diese Vorgänge gesprochen, doch wie die Kommentare zeigen, ist den gewöhnlichen Sterblichen der wirkliche Zugang zu den esoterischen Geheimnissen verwehrt. Und man ist froh, dass alles wieder so ist wie vorher:
Gott sei Dank! Nun ist's vorbei
Mit der Übeltäterei!!
Der geneigte Leser fragt sich vielleicht, ob es sich hier wirklich um Erkenntnisschätze, die mit Hilfe der Geisteswissenschaft gehoben wurden, oder nur um einen Scherz-Artikel handelt. Nun, wie bei so vielen wesentlichen Dingen, liegt die Wahrheit jenseits der Polarität.
Zum Autor: Robert Hell ist Dozent und Praxisausbilder am Südbayerischen Seminar für Waldorfpädagogik und arbeitet als Entwicklungsbegleiter und Coach.