Medien ohne Hirnforschung?

Dietmar Ferger

Ist das alles, was die Waldorfbewegung zum Thema »Medien« zu sagen hat?*

Positionen, die irgendwo zwischen dem Bedauern über computergeschriebene Zeugnisse und dem Stolz über digitale Epochenhefte schwanken? Will man es sich nicht mit digitalaffinen Yuppi-Eltern verderben? Oder ist es schlicht Resignation vor der Übermacht der digitalen Welt?

Insbesondere vermisse ich in einem Erziehungskunst-Heft zum Thema »Medien« einen Bezug und eine Diskussion über die diesbezüglichen Erkenntnisse aus der Hirnforschung und Neurobiologie, wie sie in Deutschland insbesondere von Manfred Spitzer (»Digitale Demenz«) und Gerald Hüther vertreten werden. Diese Erkenntnisse sind nicht nur eindeutig und unwiderlegbar wissenschaftlich untermauert, sie bestätigen auch, die jahrzehntelange Praxis der Waldorfschulen zum Beispiel im Hinblick auf Unterrichtsgestaltung und die Betonung der manuellen Fähigkeiten als Grundlage für kognitive Arbeit. Mit dem Hintergrund dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse aus Hirnforschung und Neurobiologie könnten Waldorfschulen nicht nur in Bezug auf Mediennutzung eine sehr klare Linie aufzeigen und diese in der Unterrichtspraxis umsetzen, sondern auch »exotische« Fächer wie Eurythmie, Plastizieren und Kupfertreiben wissenschaftlich begründen. Die Waldorfbewegung sollte den Kollegien auch aus der Hirnforschung und Neurobiologie Argumente an die Hand geben, um gemeinsam mit Eltern und Schülern digitalmedienfreie Schulen zu verwirklichen – nicht als Verbots-Schulen, sondern aus der Erkenntnis heraus, dass die Gehirnbildung in der Wachstumsphase durch jeglichen Konsum digitaler Medien behindert und gestört wird. Eine Erkenntnis übrigens, die in Kaliforniens »Silicon Valley« schon angekommen ist, wo Waldorfschulen konsequenter als bei uns »waldorf« sind und auf Nutzung digitaler Medien verzichten und damit insbesondere Eltern aus Computerberufen ansprechen.

Dass die Waldorfschulen bis jetzt nicht einen intensiven Schulterschluss mit Spitzer und Hüther gesucht haben, verwundert sehr, insbesondere weil auch Rudolf Steiner Naturwissenschaftler war und der Anspruch der Anthroposophie ja ist, Geisteswissenschaft mit naturwissenschaftlichen Methoden und mit naturwissenschaftlicher Aussagefähigkeit und Exaktheit zu betreiben.

Ja, es ist richtig, dass Spitzers Erkenntnisse unterschiedlich rezipiert oder gleich ignoriert werden, denn ihre Akzeptanz würde eine Verhaltensänderung erfordern. Werden sie aus Angst vor Auseinandersetzungen und dem Gefühl, gegen den »Mainstream« zu sein, ignoriert? Wir kennen dies ja aus anderen Bereichen, zum Beispiel beim Schadenspotenzial von Mobilfunk, von Impfungen usw. zur Genüge. Dass sich anthroposophische Ärzte bis heute zu keiner eindeutigen Haltung in Bezug auf Impfungen durchringen können, ist ein ähnlich gelagertes, trauriges Phänomen …

Gerade bei der Diskussion um die »digitale Demenz« muss m. E. von der Waldorfbewegung eine eindeutige Stimme kommen – auch auf die Gefahr hin, dass wir einige Elternhäuser verlieren. Wenn diese Stimme noch nicht da ist, muss sie innerhalb der Waldorfbewegung erarbeitet werden. Es darf der Waldorfbewegung nicht allein um Masse gehen, um immer mehr Schülerinnen und Schüler, wenn dies auf Kosten der Qualität geht. Eine gute Schule muss sich in einer umfangreichen und vielfältigen Synapsenbildung in den Gehirnen der Schüler widerspiegeln – auch wenn diese »materialistische« Art der Bestätigung vielleicht für einige Waldorflehrer ein Graus ist – und alles, was dieser Synapsenbildung entgegensteht oder sie einseitig macht, sollte wenigstens in der kindlichen Wachstumsphase strikt vermieden werden. In einer engen Kooperation mit den wissenschaftlichen Fakultäten könnten sich interessante Forschungsgebiete ergeben, zum Beispiel, ob und wie die Bildung von Synapsen im Gehirn bei einer komplexen geometrischen Gruppenform in der Eurythmie gefördert wird, oder ob die Synapsenbildung in einer Eurythmiestunde mit der Synapsenbildung in einer Balettstunde vergleichbar ist. Unter dem Gesichtspunkt der Hirnforschung und Neurobiologie ließen sich viele »Waldorftugenden« vom Morgenspruch bis zum Plastizierunterricht untersuchen. Und vielleicht stellt sich dabei ja heraus, dass Eurythmie ein Heilmittel gegen digitale Demenz ist?

Zum Autor: Dietmar Ferger ist ehemaliger Waldorfschüler und jetzt Waldorf-Vater.

* Anmerkung der Redaktion: Siehe dazu die Beiträge von Gerald Hüther in Heft 9/2011 und 12/2012, Frank de Vries in Heft 11/2012 und Bernd Kalwitz in Heft 2/2014. – Siehe auch die Broschüre des Bundes der Freien Waldorfschulen Struwwelpeter 2.0.

Die Beiträge des Medienheftes finden Sie hier