Enträtselung der Symptomatologie

Johannes Kiersch

Rudolf Steiner hat in seiner »Geheimwissenschaft im Umriß« von 1910, in dem zentralen Kapitel »Die Weltentwickelung und der Mensch«, ein umfassendes Panorama der Menschheitsgeschichte entworfen, ein grandioses Bild, hinter dem die Idee eines zielgerichteten »Weltenplans« höherer Mächte zu stehen scheint. Der dogmatische Eindruck, der hiervon ausgeht, wird heute vielfach als problematisch empfunden. (1) Auch die daraus hervorgehende Lehre von den sieben nachatlantischen Kulturepochen, von Steiner in zahlreichen historischen Vorträgen immer wieder herangezogen, erregt deshalb Anstoß. Steht sie nicht im Widerspruch zur Ethik der »Philosophie der Freiheit«?

Die bisher vorliegenden Darstellungen anthroposophisch orientierter Historiker wie Hans Erhard Lauer, Erich Gabert, Karl Heyer, Johannes Tautz, Jens Heisterkamp haben auf diese Frage keine völlig befriedigende Antwort gefunden. Sie alle, und auch Christoph Lindenberg, der wohl als erster auf diesen bemerkenswerten Tatbestand hingewiesen hat, haben nicht hinreichend berücksichtigt, dass Steiner erst während des Ersten Weltkriegs, etwa ab 1916, seinen Begriff einer »symptomatologischen Geschichtsbetrachtung« oder »geschichtlichen Symptomatologie« zu entwickeln beginnt, der den Widerspruch löst. Was Lauer eine »Geschichte als Stufengang der Menschwerdung« genannt hat, Steiners Vision der Menschheitsgeschichte, wird deshalb bis heute als eine Art Kulturgeschichte aufgefasst, eine bewusstseinsgeschichtliche Morphologie, mit spirituellem Hintergrund zwar, aber doch am Ideal einer »objektiv« gültigen Darstellung des »wirklichen« Geschehens orientiert. Die »Symptome«, von denen Steiner redet, sind da nichts weiter als charakteristische Merkmale vergangener Ereignisse, wie psychologisch und künstlerisch begabte Kulturhistoriker sie auch früher schon herauszuarbeiten vermocht haben.

Andre Bartoniczek hat nun in dem hier vorzustellenden Buch einen Durchbruch zu einer neuen Sichtweise erzielt. Dies gelingt ihm vor allem durch den Kunstgriff, die wissenschaftstheoretischen und erkenntnispsychologischen Ausführungen Steiners in dem – auch unter Anthroposophen – viel zu wenig bekannten Buch »Von Seelenrätseln« von 1917 (GA 21) heranzuziehen, umsichtig zu kommentieren und auf die Enträtselung des Begriffs der »Symptomatologie« anzuwenden. Das Ergebnis ist ein methodologischer Basistext zur Einführung in die anthroposophische Geschichtsbetrachtung, an dem künftig niemand mehr vorbeikommen wird, der das Thema seriös behandeln will, besonders im Bereich der Lehrerbildung.

Einen breiten Grund für seine Argumentation legt Bartoniczek, indem er sachkundig an Beispielen der letzten zweihundert Jahre zunächst die Aporien diskutiert, in denen das Streben nach wissenschaftlich »objektiv« gültiger Beschreibung vergangener Ereignisse sich verloren hat. Barthold Georg Niebuhr, Leopold von Ranke, Theodor Mommsen werden mit dem Verlauf ihrer tragischen Erkenntnisschicksale liebevoll porträtiert. Am Geschichtsdenken Goethes und seiner Geistesverwandten zeigen sich erste Auswege aus einer verfahrenen Forschungssituation. Vor allem aber eröffnet der Ansatz bei den Grundbegriffen des Buches »Von Seelenrätseln« Zugänge zu den Entdeckungen Steiners: zu der Einsicht, dass die Realität des historischen Geschehens in einer Seelenregion unterhalb des Wachbewusstseins zu suchen ist (»Geschichte wird geträumt«!); zur Funktion der Bilder dabei; zu der Unterscheidung von »Abbild«, »Sinnbild« und »Vorbild«; zu dem Umgehen mit Imagination, Inspiration und Intuition beim »Symptomatologisieren«; zu dem Vergleich des historischen Erkennens mit dem »Lesen« einer Schrift, im Gegensatz zum »Buchstabieren« vordergründiger »Fakten«. Mit dem damit gewonnenen Instrumentarium interpretiert Bartoniczek dann die ersten fünf Vorträge der Reihe über »Geschichtliche Symptomatologie« von 1918 (GA 185), an denen sich vieles Grundsätzliche zeigen lässt. In reicher Fülle enthält das nicht ganz leicht zu lesende Buch Anregungen für den Geschichtsunterricht im Sinne der Waldorfpädagogik.

Noch unterbelichtet bleibt für mein Gefühl, was Steiner – leider nur andeutungsweise – über den Zusammenhang des historischen Geschehens mit dem persönlichen Schicksal des historisch Erkennenden ausführt. Wie Johannes Tautz am Beispiel des ersten Geschichtslehrers der Waldorfschule, Walter Johannes Stein, gezeigt hat, eröffnen sich mit dieser Perspektive Erkenntniswege, die noch weit über das Feld einer »imaginativen« Geschichtserkenntnis hinausgehen und besonders für einen authentischen, eigenverantwortlich praktizierten Unterricht für junge Leute im dritten Jahrsiebt entscheidend wichtig werden könnten. Bartoniczek berührt diesen Punkt (S. 231), geht aber noch nicht hinreichend ausführlich darauf ein.

(1) Als das Magazin »Der Spiegel« in den 80er Jahren in Fortsetzungen eine Reportage über  »die Anthroposophen« brachte, geschah das unter dem Titel: »Der Weltenplan vollzieht sich unerbittlich.«

Andre Bartoniczek: Imaginative Geschichtserkenntnis. Rudolf Steiner und die Erweiterung der Geschichtswissenschaft. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben, 2009. 284 Seiten.