Mehr Humboldt!

Henning Kullak-Ublick

Trotz aller Beteuerungen zur Gerechtigkeits- und Chancengleichheit richten sich in unserem Schulsystem die Bildungsmöglichkeiten bis heute nach der Schichtzugehörigkeit der Schüler. Ent­sprechend werden sie nach Schularten getrennt. Der UN-Sonderbeauftragte Vernor Muñoz hat zuerst 2006 und noch einmal 2009 nachdrücklich auf diese in Deutschland praktizierte Selektion hingewiesen.

Das ist umso erstaunlicher, als nach dem PISA-Schock im Jahr 2000 eine regelrechte Reisewelle nach Finnland begann. Was unsere Bildungspolitiker allerdings meist mit nach Hause brachten, war das, was sie sowieso schon kannten: Reglementierungen, diesmal in Gestalt zentraler Abschlussprüfungen, nationaler Bildungsstandards und früherer Einschulungszeiten. Das ist aber gerade nicht typisch für das finnische Schulsystem.

Finnische Kinder werden zum Beispiel erst mit sieben Jahren eingeschult und bleiben ohne Sitzen­bleiben neun Jahre zusammen in einer Klasse. Obwohl 98 Prozent aller Kinder eine Vorschule be­suchen, müssen sie dort noch nicht Schreiben und Rechnen lernen. Nach dem Ende ihrer neunjährigen gemeinsamen Schulzeit besucht etwa die Hälfte der Schüler weiterführende Schulen, die anderen beginnen mit einer Berufsausbildung. 20 Prozent der wöchentlichen Unterrichtszeit steht für Projekte der Schule zur Verfügung. Neben dem Klassenlehrer arbeiten Schulpsychologen, Gesundheitsfürsorger, Schullaufbahnberater und – im Bedarfsfall – die Eltern sowie ein Schularzt in wöchentlichen Konferenzen zusammen. Ein Kurator aus der Abteilung »Schülerfürsorge und Schülerwohlbefinden« im Schuldezernat wacht darüber, dass die Kinder und Jugendlichen ihren Voraussetzungen entsprechend lernen und bei ihrer Entwicklung zu ausgeglichenen Persönlichkeiten unterstützt werden, dass sie sich in der Schule wohl und sicher fühlen und dass eine Kultur der gegenseitigen Achtung und positiven Wechselwirkung entsteht. Die Grundschulen bekommen mehr Geld als die Gymnasien, weil gerade die jüngeren Kinder einer besonderen Förderung bedürfen, um selbstständig zu werden. Das ist hierzulande umgekehrt.

Die finnische Realität kommt der Vision Humboldts von einer Schule für alle schon recht nahe. Es ist überflüssig zu erwähnen, dass die finnischen Schulen eine weit reichende Autonomie besitzen. Auch das war Humboldt keineswegs fremd. Bereits 1792 schrieb er: »Öffentliche Erziehung scheint mir ganz außerhalb der Schranken zu liegen, in welchen der Staat seine Wirksamkeit entfalten muss.« –

Mehr Humboldt, bitte!

Henning Kullak-Ublick, Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen und bei den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, seit 1984 Klassenlehrer in Flensburg, Aktion mündige Schule (www.freie-schule.de