Trans- und posthumanistische Phantasien

Edwin Hübner

Prometheisches Gefälle

Die technische Entwicklung beschleunigt sich derart, dass wir kaum mitkommen. Die Entwicklungszeiten des Menschen und die der Geräte klaffen immer mehr auseinander. Der Mensch lebt in den gleichmäßigen Rhythmen seines Organismus. Sein Herz schlägt heute genauso wie vor einhundert Jahren mit einer durchschnittlichen Frequenz von 72 Schlägen pro Minute. Menschliche Fähigkeiten brauchen für ihre Entwicklung große Zeiträume. Das lässt sich nicht beschleunigen.

Ganz anders dagegen die Technik, beispielsweise die Chiptechnologie: Dort herrscht ein sich fortwährend beschleunigendes Entwicklungstempo. Die von Gordon Moore Mitte der 1960er Jahre geäußerte Prognose, nach der sich die Anzahl der Transistoren, die auf einem Chip untergebracht werden können, alle 18 bis 24 Monate verdoppeln werde, hat sich bis in die Gegenwart hinein erstaunlich gut erfüllt. Wenn sich etwas in gleichen Zeiträumen jeweils verdoppelt, dann liegt eine exponentielle Entwicklung vor. Die sich öffnende Schere der Entwicklungsgeschwindigkeiten konnte man schon vor vielen Jahrzehnten wahrnehmen. Der Technikphilosoph Günther Anders beschrieb sie bereits in den 1950er Jahren. Er sprach von unserer Unfähigkeit, »seelisch … auf dem Laufenden mit unserer Produktion zu bleiben«. Diese mangelnde Synchronizität des Menschen mit seiner Produktewelt bezeichnete er als »prometheisches Gefälle«.

Die Produktion entlässt den Menschen

Dieses prometheische Gefälle wächst und verdrängt den Menschen aus dem Wirtschaftsprozess. Neuere Studien prognostizieren, dass in wenigen Jahren mehr als die Hälfte aller Arbeitsplätze wegfallen werden. Auf lange Sicht gehen wir auf eine 20-zu-80-Gesellschaft zu, in der nur noch zwanzig Prozent der Menschen arbeiten müssen, um alle Menschen mit Nahrung und Gütern versorgen zu können.

Für die jetzige Schülergeneration wird es das bisherige Modell der für Lohn arbeitenden Gesellschaft kaum noch geben. Dann stellt sich für jeden Menschen die Frage, wie er seinem Leben einen Sinn geben kann, wenn die Erwerbsarbeit als sinngebender Faktor wegfällt. Wenn der Mensch das nicht schafft, dann könnte er in Zukunft »mit dem schlechten Gewissen der Antiquiertheit« sein Leben fristen oder gar wie ein verstörter Saurier zwischen seinen Geräten herumlungern, wie Günther Anders pointiert formulierte. Was ist der Sinn meines Daseins? Was ist der Sinn des Lebens? Für den einen oder anderen Mensch können die alten Religionen diese Frage noch beantworten, ihre einst kulturprägende Kraft ist jedoch versiegt.

Transhumanismus: die neue Technoreligion

Dafür kündigt sich am Horizont eine neue Religion an: die Technoreligion des Transhumanismus. Sie hat bis jetzt zahlenmäßig nur sehr wenige Anhänger, diese stehen aber vor allem im Silicon Valley an entscheidenden Schlüsselstellen der technologischen Forschung und Entwicklung und sind sehr öffentlichkeitswirksam. Verfechter des Transhumanismus wollen nicht als religiös Gläubige gelten, aber im Kern handelt es sich doch um eine Heilslehre. Um was geht es?

Es geht um ein Menschenbild, das den Menschen als eine bloß informationsverarbeitende Maschine ansieht. Deshalb könne man diese biologische Maschine mit technisch erzeugten Geräten kombinieren. Das Gehirn wird als eine Art Hardware angesehen, auf der die Software »menschliches Bewusstsein« läuft. Dieses lasse sich auch mit technischen Geräten simulieren, in dem das vorhandene Bewusstsein auf Computer übertragen wird. Da im Gegensatz zum Gehirn Computer ihre Leistungsfähigkeit fortwährend verbessern, glauben Transhumanisten durch die Koppelung der technischen mit der menschlichen Intelligenz eine grenzenlose Erhöhung der Intelligenzleistungen erreichen zu können: »Menschenartige Intelligenz kombiniert mit der Computern inhärenten Geschwindigkeit, Präzision und Kommunikationsfähigkeit wird eine unschlagbare Mischung ergeben«, so der Leiter der technischen Entwicklung bei Google, Raymond Kurzweil.

Für solche Transhumanisten ist die kosmische Evolution nicht eine solche des Menschen, sondern eine der Intelligenz, bei welcher der Mensch nur eine Zwischenrolle spielt. Der Transhumanismus geht in einen Posthumanismus über.

Die Entwicklungsdynamik der Technologie wird von den Transhumanisten in die Zukunft projiziert. Sie gehen davon aus, dass diese ungebremst weitergeht. Da jede exponentielle Entwicklung ab einem gewissen Punkt explosionsartig wächst, nehmen sie dies auch für die technologische Entwicklung an. Das führt zu dem Glauben, dass es in naher Zukunft einen Entwicklungspunkt geben wird, an dem die künstliche Intelligenz diejenige des Menschen überschreitet oder mit ihr fusioniert. Diesen Zeitpunkt erwarten die Transhumanisten für das Jahr 2045. Sie nennen ihn »Singularität«.

Die »Initiative 2045«

Von solchen Gedanken ausgehend begründete der russische Milliardär Dmitry Itskov 2011 die »Initiative 2045«. In dem Gründungsaufruf hieß es: »Wir brauchen ein neues Paradigma für menschliche Evolution. Wir brauchen eine neue Ideologie und eine neue Ethik. Unsere Leben sind begrenzt durch unsere Biologie und unsere erdbezogene Existenz. […] Aber zum ersten Mal ist Evolution kontrollierbar geworden. […] Die Entwicklungen in einigen zusammenhängenden Technologien ermöglichen das Erschaffen von selbst-organisierenden Systemen, die in der Lage sind, das Leben und das Bewusstsein biologischer Systeme in nicht-biologischen Trägern nachzubilden. Das ist der Weg der transhumanistischen Transformation: Die biologische Evolution durch eine cybernetische Evolution zu ersetzen«.

Dieses Ziel will die Initiative in vier großen Teilschritten erreichen:

• Bis 2020 sollen Menschen Roboter-Avatare durch ihre Gedanken steuern können.

• 2025, soll es möglich sein, das Gehirn eines Menschen am Ende seines Lebens in einen Roboter zu verpflanzen, sodass der Mensch in diesem weiterleben kann.

• 2035 will man soweit sein, ohne Gehirnübertragung auszukommen. Die menschliche Persönlichkeit soll kurz vor dem Tod in das künstliche Gehirn eines Roboters übertragen werden, sodass sie dann innerhalb dieses Geräts weiterleben kann.

• 2045 soll die endgültige irdische Unsterblichkeit erreicht werden, indem das menschliche Bewusstsein in ein künstliches Gehirn übertritt, von dem aus es in holographischer Form in der Welt in Erscheinung treten kann.

Angestrebt wird eine schöpferische Omnipotenz:

• Der Alterungsprozess soll überwunden und der Tod besiegt werden.

• Das menschliche Bewusstsein soll Zugang zu verschiedenen Körpern und virtuellen Realitäten erhalten.

• Durch Gedankenkraft soll der Mensch Materie formen können. Auch soll er fähig werden, sich ein persönliches Universum zu schaffen, das er nach Belieben kontrollieren kann.

• Erlangung der vollen Kontrolle über Raum und Zeit, die Eroberung des Weltalls, indem sich die Intelligenz von der Erde loslöst und alle Materie und Energien des Kosmos durchdringt. Damit ist das ultimative Ziel der Entwicklung erreicht, die Evolution des Universums beendet.

Kosmische Evolution der Intelligenz

Solche Ziele sind in ein Gesamtbild der Evolution eingebettet. Der Trans- und Posthumanismus gliedert die Evolution in sechs große Epochen.

• Die erste Epoche beginnt mit dem Urknall. In ihr entstehen die Atome und es bilden sich die Naturkonstanten sowie die physikalischen und chemischen Gesetze heraus.

• In der zweiten Epoche entsteht das einfache biologische Leben, auf dessen Grundlage sich dann die »Datenverarbeitungsmechanismen der dritten Epoche (Nervensysteme und Gehirne)« entwickeln.

• Innerhalb der vierten Epoche entsteht aus den Gehirnen in Kombination mit den menschlichen Händen die Technik. Deren Entwicklung vollzieht sich mit exponentiell wachsender Geschwindigkeit.

• In der fünften Epoche, die mit dem Jahr 2045 beginnen soll, verschmelzen die menschliche und die technische Intelligenz. »Durch die fünfte Epoche kann die Mensch-Maschinen-Zivilisation hinauswachsen über die Beschränkungen des menschlichen Gehirns mit seinen wenigen 100 Billionen Synapsen«, prognostiziert Kurzweil.

• In der sechsten Epoche erwacht dann das Universum. Die Intelligenz löst sich vom Maschinen-Menschen los und durchdringt alle Materie und Energie. »In jedem Fall werden ›dumme‹ Materie und Abläufe im Universum umfunktioniert, werden zu einer Form höchster, erhabener Intelligenz, welche die sechste Epoche der Informationsevolution ausmacht. Dies ist das ultimative Schicksal der Singularität und des Universums«, so noch einmal Kurzweil.

Es ist nicht zu übersehen, dass solche Gedanken eine spirituell-theologische Dimension haben. Im Kleid informationstechnischer Begriffe wird eine Art religiöse Heilsgeschichte erzählt.

Realisierung transhumanistischer Ideen

Man könnte nun glauben, solche Gedanken seien etwas für schräge Science-Fiction-Liebhaber, die man nicht sonderlich ernst nehmen müsse. Ganz im Gegenteil: Transhumanistische Ideen werden in den Softwareschmieden des Silicon Valley sehr ernst genommen. Beispielsweise wurde 2008 von Ray Kurzweil und Peter Diamandis die »Singularity University« gegründet. In erster Linie möchte diese kleine Hochschule Elitemanager aber im Sinne transhumanistischer Ideologie fortbilden.

Einer der Hauptsponsoren dieser Universität ist Google. Google ist ein Konzern, der die Singularität realisieren will. Die Gründer von Google hatten von Anfang an das Ziel, mit ihrer Suchmaschine eine künstliche Intelligenz zu entwickeln. Auch heute noch arbeitet Google intensiv an der Realisierung künstlicher Intelligenzen und ist diesem Ziel schon recht nahe gekommen. Durch eine Reihe von Unternehmensübernahmen ist Google mittlerweile der größte Roboterhersteller weltweit. Die Arbeit an dem selbstfahrenden Google-Auto kann man ebenfalls in diesem Zusammenhang sehen: Man will ein Roboter-Auto mit selbstständiger technischer Intelligenz konstruieren.

»Es geht um nicht weniger als die Idee, Menschen in die Cloud hochzuladen und ihnen ein Leben jenseits ihrer sterblichen Hülle zu ermöglichen«, sagt der »Springer-Mann« Christoph Keese in seinem Buch »Silicon Valley«. Wie das praktisch aussehen könnte, ist in dem jüngst von Jens Lubbadeh verfassten Science-Fiction-Roman »Unsterblich« zu lesen.

Auf dem Wege dahin sucht man Verfahren, die den Menschen immer enger an die Maschine koppeln. Zum einen möchte man das menschliche Gehirn direkt mit dem Internet verbinden – Google-Mitgründer Sergey Brin: »Wir wollen aus Google die dritte Hälfte eures Gehirns machen« –, zum anderen will man erreichen, dass Menschen Geräte unmittelbar und allein durch ihre Gedanken steuern können.

Bis heute sind in dieser Hinsicht erstaunliche Erfolge erzielt worden. So gelang es 2012 einer an allen Gliedmaßen gelähmten Frau durch Einpflanzung von Elektroden in ihr Gehirn, einen Roboterarm nach Belieben gedanklich zu steuern (siehe youtube).

Desertion in das Lager der Geräte?

Was man mit solchen Technologien anstrebt, könnte man mit Günther Anders Worten als »Desertion« des Menschen ins Lager der Geräte beschreiben. Da sich der Mensch seinen eigenen maschinellen Schöpfungen hoffnungslos unterlegen fühlt und er mit ihrer exponentiellen Entwicklungsgeschwindigkeit nicht mithalten kann, beginnt er sich nun selbst zum Gerät, zum Cyborg, umzubauen. Er macht sich selbst zum Mit-Gerät innerhalb der global vernetzten Welt der Apparate. Er will innerhalb des Internets der Dinge Unsterblichkeit erreichen, während er sich als ewig lebendes seelisch-geistiges Wesen abtötet.

Der Philosoph Jean Baudrillard sagte einmal treffend: »Indem die menschliche Art auf die virtuelle (technische) Unsterblichkeit zielt und sich durch Projektion in die Artefakte eine exklusive Ewigkeit sichert, ist sie gerade dabei, ihre eigene Immunität, ihre Besonderheit aufzugeben; sie macht sich als unmenschliche Art unsterblich, sie vernichtet in sich selbst die Unsterblichkeit des Lebenden zugunsten einer Unsterblichkeit des Toten«.

Transhumanistische Ideologien sind eine Herausforderung, über das Wesen des Menschen nachzudenken. Sie machen die Frage nach dem Sinn des Menschen zu einer existenziellen. Waldorfpädagogen müssen sich mit diesen Bestrebungen der Verabschiedung des Menschen auseinandersetzen.

An den reduktionistischen Irrtümern des transhumanistischen Denkens lässt sich zeigen, was das Wesen des Menschen ausmacht und was die Pädagogik dazu beitragen kann, der Schule ein menschliches Zeitmaß zu geben, sodass sich Kinder menschenwürdig entwickeln können.

Zum Autor: Prof. Dr. Edwin Hübner war Lehrer für Mathematik, Physik und Religion an der Freien Waldorfschule Frankfurt/Main. Seit 2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Pädagogik, Sinnes- und Medienökologie (IPSUM) in Stuttgart. Derzeit Dozent an der Freien Hochschule Stuttgart. Autor mehrerer Sachbücher zum Thema Medienerziehung.

Literatur: G. Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, Bd. 1, München 1994 | R. Kurzweil: Menschheit 2.0. Die Singularität naht, Berlin 2013 | Dmitry Itskov (2011): https://www.sein.de/cybernetische-evolution-milliardaer-will-bewusstsein-auf-maschinen-uebertragen/

siehe auch: http://2045.com/

Chr. Keese: Silicon Valley. Was aus dem mächtigsten Teil der Welt auf uns zukommt, München 2014 – youtube: https://www.youtube.com/watch?v=TG4F9fK9Y54 

J. Baudrillard: Überleben und Unsterblichkeit. In: D. Kamper, Chr. Wulf (Hrsg.): Anthropologie nach dem Tode des Menschen, Frankfurt 1994