Warum Astronomie in der 11. Klasse?

Hans Ulrich Schmutz

In einem Fortbildungskurs für die Lehrer der ersten Waldorfschule in Stuttgart 1921 führt Steiner aus, dass ein Verständnis der embryologischen Vorgänge oder des Lebens einer Zelle nur zu erreichen sei, wenn ein Bezug zur Astronomie hergestellt werde. Und umgekehrt seien die biologischen Vorgänge ohne die Beziehung zur Astronomie nicht zu entschlüsseln. Wie kann das gemeint sein?

Die Himmelsbewegungen zeigen rhythmische Abläufe, die immer wieder durch Einflüsse von Kometenereignissen verändert werden. Somit gibt es keine exakte mathematische Berechenbarkeit der Himmelsbewegungen. Diese Tatsache ergibt die Möglichkeit, dass das Himmelsgeschehen sich entwickeln kann. Rhythmus und Entwicklung sind zentrale Merkmale des Lebens. Sowohl in Lebensvorgängen wie auch im Sonnen- und Fixsternsystem findet man charakteristisch vergleichbare Bewegungsbeziehungen, die rhythmisch und veränderbar ablaufen.

Das geozentrische Weltbild in homozentrischer Betrachtung

Bevor aber Wechselbezüge denkend hergestellt werden können, müssen die Himmelsbewegungen als solche kennengelernt und bedacht werden. Dies geschieht auch noch in einer 11. Klasse am besten so, dass man, auf der Erde stehend, die laufende Veränderung der Stellung von Sonne, Mond und Planeten zu den Fixsternen beobachtet und bedenkt. Abbildung 1 (siehe S.10) zeigt die Aufzeichnungen der über Tag und das Jahr aufsummierten Beobachtungsergebnisse. Da kann etwas Bedeutungsvolles bemerkt werden: Der Elftklässler schaut sich von weit außen zu, wie er von innen (siehe Menschenfigur im Zentrum der Darstellung) nach außen beobachtend im Weltall die Zusammenhänge erfasst. Diese Selbstbeobachtung ist ein wichtiger Schritt in der Entwicklung des Selbstbewusstseins und des Standortbewusstseins. Der Schüler beginnt, sich beim Untersuchen der Welt als Beobachter zu beobachten! Darum ist es fatal, wenn in vermeintlicher Modernität das abstrakte Modell des kopernikanischen Weltbildes zur Erklärung der Himmelsbewegungen verwendet wird.

Wie in Abbildung 2 (siehe S.10) dargestellt, müsste der Schüler entsprechend der vorgängig beschriebenen Übung sich von außen betrachten, wie er von der Erde aus den Himmel beobachtet. Dann könnte er die auf der Erde wirklich gemachten Beobachtungen mit dem Gesamtzusammenhang verbinden. Was aber bedeuten würde, dass er sich erleben müsste, wie er – auf dem eingezeichneten Rechteck als Standort in Abb. 2 – quasi taumelnd um die schiefgestellte Erdachse täglich einmal rundherum bewegt und zusätzlich einmal im Jahr um die Sonne gedreht wird! Dies ist eine Überforderung. Folge davon ist, dass der Schüler das kopernikanische Modell als von sich getrennt, als etwas Abstraktes erlebt und damit die Astronomie rein intellektuell, wissensmäßig lernt.

Zu Kopernikus muss man natürlich im Verlauf der Epoche vordringen. Eine wissenschaftsgeschichtliche Betrachtung kann aufzeigen, wie Kopernikus zu der heliozentrischen Darstellung kam. Er hatte das Ziel, rechnerisch den päpstlichen Auftrag der Kalenderreform zu lösen. Er hatte zunächst versucht, mit dem ptolemäischen, also geozentrischen Weltbild und den ihm zur Verfügung stehenden Beobachtungsdaten ans Ziel zu kommen. Der Rechenaufwand war aber so groß, dass er nicht genügend Lebensjahre zur Lösung der Aufgabe zur Verfügung gehabt hätte. So bildete er rein vorstellungsmäßig ein himmelsmechanisches Modell, in dem der Rechenaufwand bedeutend kleiner war. Da er wusste, dass diese Konstruktion gegen die kirchliche Weltanschauung gerichtet war, ließ er erst, als er auf dem Totenbett lag, sein Rechen­resultat dem Papst überreichen.

Astronomie und Eiszeitzyklen

Die Schüler lernen im Verlauf der Epoche verschiedene Rhythmen kennen. Beispielsweise entsteht aus der Besprechung der drei von Kopernikus postulierten Bewegungen das platonische Weltenjahr. Die dritte kopernikanische Bewegung, die Drehung der Erdachse auf einem Kegelmantel in einem Jahr, unterscheidet sich – nebst dem umgekehrten Umlaufsinn – um ganz wenig von der auch jährlichen Umlaufzeit der Erde um die Sonne in der zweiten kopernikanischen Bewegung. Diese zwei gegenläufigen Bewegungen gleichen sich nach 25.920 Jahren wieder aus. Das nennt man das platonische Weltenjahr. Ein weiterer Rhythmus ist die Veränderung der Öffnung des Kegelwinkels bei der oben genannten Kegelmanteldrehung. Dieser Winkel variiert zwischen 22,1 und 24,5 Grad in rund 41.000 Jahren. Zeiten mit großem Winkel bedeuten extremere Jahreszeitenunterschiede. Wie schon durch Ptolemäus bekannt geworden und durch Kepler mathematisch formuliert, ist die Bewegungsbeziehung zwischen Erde und Sonne nicht kreisartig, sondern ellipsenförmig. Dies bedeutet, dass im halbjährlichen Wechsel die Sonne einmal näher und dann wieder weiter weg von der Erde steht. Die Ausprägung der Ellipsengestalt variiert nun auch in einem Rhythmus. Alle 100.000 Jahre etwa zeigt die Ellipse den Wechsel von fast kreisförmig zu deutlich ellipsenförmig.

Diese drei Rhythmen bewirken in ihrer gegenseitigen Überlagerung auf der Erde rhythmische Schwankungen der jahreszeitlich sich ändernden Sonneneinstrahlung. Rechnerisch resultieren Rhythmen von 21.000 Jahren und 105.000 Jahren. Das bedeutet, dass während Jahrtausenden auf kühle Sommer milde Winter folgen. Dann wieder sind einige Tausend Jahre lang heiße Sommer mit kalten Wintern gepaart. In dieser Zeitperiode bekommen die Gletscher den Impuls, zu schmelzen, während in der erstgenannten Periode eine Eiszunahme zu erwarten ist.

Wenn man nun meint, diese von Milankovic schon 1920 postulierten Rhythmen seien die Ursachen der Eiszeiten und Warmzeiten, dann hat man sich getäuscht. Es handelt sich hier nicht um eine Ursache, die zu einer bestimmten Wirkung führen muss, sondern um einen Anregungs­impuls. Wenn weitere günstige Bedingungen auf der Erde da waren, entstand eine Eiszeit, wenn nicht, blieb sie aus. Begünstigende Erdbedingungen für eine Eiszeitbildung waren beispielsweise die Hebung des Hochplateaus von Tibet, die Vitalität des Planktons in den Weltmeeren in Verbindung mit der Absenkung des atmosphärischen Kohlendioxidgehaltes, die Umstellung der Meeresströmungen, die vorübergehend zur verstärkten Einlagerung von Kohlendioxid in die Tiefseeböden führte, oder die Bildung einer Landbrücke zwischen Nord- und Südamerika. Die kosmischen Rhythmen geben also Anregungen, die von der Erde in ihren Konstellationen und mit ihren Lebensprozessen wie einem Organ innerhalb eines übergeordneten Organismus – hier dem Kosmos – aufgegriffen werden können, aber nicht müssen. An diesem Beispiel kann der Schüler den Unterschied zwischen der Ursache-Wirkung-Folge im Leblosen und der im Lebendigen herrschenden befördernden oder behindernden Bedingung denken lernen. Die Besprechung der Eiszeitzyklen bekommt erst in der 12. Klasse ihre tiefere Bedeutung, wenn besprochen wird, wie durch den mehrfachen Wechsel von Warm- und Kaltzeiten die Bedingungen für eine immer wieder erfrischende Weiterentwicklung des Lebens entstanden.

Aus dem mehr­fachen Wechsel von Schwund und Wachstum der Gletscher heraus wurden die weitläufigen Wanderungsbewegungen der Pflanzen, Tiere und nicht zuletzt auch der Vorläufer des Homo Sapiens impulsiert. Diese Klimazyklen beförderten die Erscheinung der modernen Tier- und Pflanzenwelt. Dazu kam die für den Menschen bedeutsame Umbildung des Landschaftsreliefs, aufgrund dessen er die Kultivierung dazusetzte.

Sachgerechte Urteilsbildung

Im Wechsel der Eiszeitzyklen innerhalb der letzten zwei Millionen Jahre schwankte die mittlere Jahrestemperatur nur um 4 bis 5 Grad und begleitend variierte der atmosphärische Kohlendioxidgehalt zwischen 180 ppm (Millionstel Teile) und 290 ppm. Bezogen auf die oben besprochenen kosmischen Rhythmen sollte die nun schon mehr als 11.000 Jahre lang währende Warmperiode langsam wieder von rund 15 Grad auf 11 Grad abklingen und einer nächsten Kaltperiode Platz machen. Eine solche Abkühlung setzte im ausgehenden Mittelalter langsam ein und führte zur sogenannten kleinen Eiszeit, die nach Beginn des industriellen Zeitalters um 1850 wieder abklang. In den nachfolgenden 150 Jahren ist die globale Erdtemperatur um mehr als 1,7 Grad angestiegen und der atmosphärische Kohlendioxidgehalt wurde zur Hauptsache durch Verbrennung von Kohle, Öl und Gas im selben Zeitraum auf 400 ppm erhöht. Nach gut abgesicherten Abschätzungen der Klimaforschung kann die Temperatur in den nächsten 100 Jahren um minimal zwei Grad oder bei weltweit weiter steigender Verbrennung von Öl, Gas und Kohle sogar um mehr als vier Grad ansteigen.

Wenn die Prognosen einträfen, hieße dies, dass die Temperaturveränderung um vier bis sechs Grad im Vergleich zu den Ereignissen der letzten Eiszeitzyklen auf die verkehrte Seite und in einer nie dagewesenen Geschwindigkeit ablaufen würde. Die industrialisierte Menschheit mit ihrer heutigen technologischen Praxis ist also in der Lage, das Gleichgewicht der kosmischen Rhythmen in Beziehung zu den natürlichen Erdenverhältnissen in doppeltem Maße zu stören: durch Temperaturumkehr und durch
massive Beschleunigung der Veränderung.

Ein gediegen gestalteter Unterricht in Astronomie kann eine wichtige Grundlage abgeben für eine sachgerechte Urteilsbildung in der hochpolitisierten Auseinandersetzung um die Veränderung des Klimas.

Eine große Forschungsaufgabe

Als vier Jahre nach der Gründung der ersten Waldorfschule in Stuttgart durch staatlichen Druck die Einführung des Abiturs am Ende der 12. Klasse notwendig wurde, entstand das Problem der intellektuellen Verschulung und damit in der 12. Klasse der Zwang der Verleugnung des Waldorfschul-Prinzips (Konferenz vom 25.4.1923).

In dieser Lehrerkonferenz entwickelte Steiner Gesichtspunkte einer Unterrichtsgestaltung ohne Abitur. Er zeigte das am Beispiel des Geographieunterrichts der 12. Klasse auf: Es wäre sehr schön, so führte er aus, mit den Schülern zu behandeln, wie die Bewegung der Kontinente auf der Erde im Lauf der Erdgeschichte gelenkt sei durch Kräfte der Fixsterne. Damals war durch Alfred Wegener die Idee der Wanderung der Kontinente ganz frisch zur Debatte gestellt worden. Wegener wurde aber von der Fachwelt total abgelehnt. Fast 100 Jahre später ist es dank umfangreicher Forschungsresultate möglich, die gegenseitige Lage der Kontinente und Form sowie die Größe der Ozeane bis in die weite geologische Vergangenheit zu rekonstruieren. Es entsteht das Bild, dass das Antlitz der Erde mehrfach in einem Rhythmus von etwa 230 Millionen Jahren wechselte von einem Getrenntsein der vielen Kontinente mit vielen Ozeanen dazwischen, hin zu einem Einheitskontinent mit einem einzigen Ozean. Und diesen Rhythmus von 230 Millionen Jahren kennt auch der Astronom. Es handelt sich um die Umlaufzeit der Eigendrehung der Milchstraßengalaxie um ihren Zentralpunkt.

Natürlich ist mit diesem Hinweis noch nicht die Möglichkeit vorhanden, dem Gestaltungswunsch Steiners für die 12. Klasse nachzukommen. Es steht die Aufgabe vor uns, eine große Forschungsaufgabe zu leisten. Aber die Richtung ist gegeben: Irdisch-kosmische Beziehungen zu erforschen mittels der Zusammenführung der modernen Naturwissenschaft mit der Geisteswissenschaft, deren Grund Steiner gelegt hat.

Zum Autor: Hans-Ulrich Schmutz, Geologe, ehemaliger Oberstufenlehrer für Erdkunde und Technologie an der Rudolf-Steiner-Schule Wetzikon. Heute tätig in der Lehrerbildung und in der Forschung.

Literatur: R. Steiner: Das Verhältnis der verschiedenen naturwissenschaftlichen Gebiete zur Astronomie. Dritter naturwissenschaftlicher Kurs: Himmelskunde in Beziehung zum Menschen und zur Menschenkunde, 1.-18. Januar 1921, (GA 323), Dornach 1983; R. Steiner: Konferenzen mit den Lehrern der Freien Waldorfschule in Stuttgart; 1919 bis 1924, 3 Bände, GA300a-c, Dornach, 1993.