Sachbuch

Mit dem Modell der Ätherkräfte Konflikte lösen

Karl-Dieter Bodack
Foto: © Matthis Dierkes / photocasede

Unter dem Begriff der »Unternehmenskultur« finden sich Vorschläge und Regeln, die sich auf interaktives Handeln (»Führung«) beziehen und dann auch spezifische Prozesse und Zustände darstellen. Zum Verständnis sozialer Prozesse bietet sich an, in Anlehnung an die Physik von »Kräften« zu sprechen, besser noch von »Kraftfeldern«, die das soziale Geschehen ähnlich bestimmen, wie Schwerkräfte, magnetische oder elektrische Felder physisches Geschehen. Im Sozialen werden die wirkenden Kräfte von den Teilnehmenden erzeugt, deren Beziehungen in der Summe eine Metaebene über den individuellen Beziehungen zwischen den Individuen schaffen. Sie wird oft als »Klima« oder »Atmosphäre« bezeichnet, wobei auch solche Begriffe in »übertragener« Bedeutung verstanden werden.

 

Gemeinschaft erleben

»Da war viel heiße Luft!«, erfahre ich im Bericht über eine Arbeitsgruppe. In einem anderen Fall herrschte »Eiseskälte«. »Mir ging ein Licht auf«, berichtet mir jemand; ein Anderer »tappte völlig im Dunkeln!«, dabei passierte dies in hellem Tageslicht. Ich erfuhr von »lebendigen Gemeinschaften«, aber auch von »Grabesstille« im Bericht eines Treffens. Hier beschreiben Adjektive nicht materielle Gegebenheiten – die Berichtenden verwenden sie vielmehr in »übertragener« Bedeutung. Denn: Hier ist nicht das physische Licht, die reale Wärme, Tod und Leben gemeint. Tatsächlich spiegeln die verwendeten Begriffe geistig-seelische Abläufe im sozialen Geschehen! Beschreiben »Wärme – Kälte«, »Licht – Dunkel«, »Leben – Tod«, »Harmonie – Missklang« tatsächlich reales Geschehen in Gemeinschaften, Initiativen, Unternehmen? Gibt es im sozialen Wirken dieser vier Pole Gestaltungsmöglichkeiten? Könnten sie helfen, die Konfrontationen der Corona-Pandemie zu überwinden: Denn in ihr erfuhren wir von »hitzigen Wortgefechten«, »Dunkelziffern«, »tödlichen Angriffen« und »schrillen Tönen«! Suchen wir hier Gestaltungsmöglichkeiten für Gespräche und Aktivitäten, die – auch bei differenten Werten und Überzeugungen – zu einem Grundkonsens für friedliches Zusammenleben und zu gemeinsamem Handeln führen! In der Anthroposophie wird die Metaebene, die wir heute als »Atmosphäre« oder »Klima« bezeichnen, als »Äther« bezeichnet und erforscht. Im sozialen Geschehen können »Ätherkräfte« erlebt und erkannt werden. Sie werden dabei qualitativ differenziert in »Lichtäther«, »Wärmeäther«, »Lebensäther« und »Klangäther« (1)(2). Dabei erscheint der Begriff »Äther« zunächst irreführend, er bezeichnet hier etwas ganz anderes als einen physisch-chemischen Stoff. Da er jedoch in weiterführende Arbeiten übernommen wurde, wird er auch hier verwendet: Beschreibt er doch die differenzierten Qualitäten der vier auf Menschen wirkenden Kräfte im Rahmen sozialer Prozesse. Die von Rudolf Steiner erkannten Gesetzmäßigkeiten wurden vor allem von Ernst Marti (3) und Heinz Grill (4, 5) vertieft und in verschiedenen Richtungen weiterent­wickelt. Wirkt der Begriff »Äther« irreführend oder weckt er Vorurteile, mag er durch »Bildekräfte«, »Entwicklungskräfte«, »Gestaltungskräfte«, »Umfeldkräfte«, »soziale Feldkräfte«, »Sozialkultur«, »Ambiente«, »Atmosphäre«, »soziales Klima« oder dergleichen ersetzt werden. Dabei kann die »Vierheit« zunächst als »Theorie« verstanden werden, die auf reale soziale Prozesse angewendet wird und entweder verifiziert, modifiziert oder auch falsifiziert wird.

Schritte in die Praxis

Soziales Geschehen in Gruppen soll hier so betrachtet werden, dass es aus der Wirkung der vier Ätherkräfte verstanden wird. Dabei können Einflüsse kräftig und positiv sein, dann gelingen die Intentionen der Gruppe, ihre Ideale und Ziele werden gut und in vorgesehenen Zeitläufen erreicht. Es entsteht dann eine Symbiose der individuellen Aktivitäten zu gemeinsamen Wirkungen, die über die individuellen Beiträge hinausgehen. Dabei soll erkannt werden, welche der vier Ätherkräfte in ihrer spezifischen Art wirken und wie sie durch das Verhalten der Mitwirkenden wachsen oder gemindert werden.

Lichtätherwirken

Es dient dem Erkenntnisfortschritt: Verstehen wir die Situation richtig, finden wir die wirkenden Einflüsse, erkennen wir unsere individuellen Fähigkeiten, finden wir die möglichen Handlungsalternativen? Dazu sollten alle Mitglieder ihre Beobachtungen äußern, die der anderen vorbehaltlos wahrnehmen und offen Fragen stellen. Bei Widerspruch sollen nur die Inhalte und nicht die sprechende Person kritisiert werden. Hier gilt es, Nichtwissen, Unsicherheiten, Vermutungen und Ängste zu überwinden, Vermutungen ohne Fakten stören das Wirken dieses Ätherfeldes.

Wärmeätherwirken

Hier geht es um den Aufbau von Empathie: Damit soll die Bereitschaft geweckt werden, eigene Anschauungen vorbehaltlos äußern zu können. Das Feld wächst durch das Äußern der eigenen Befindlichkeit und die Wahrnehmung der Befindlichkeiten anderer — ohne sie zu kritisieren. Es wächst ebenso unter Umständen durch Kunst (Singen, Tanzen, Malen). Persönliche Angriffe, Schuldzuweisungen, Urteile über Charaktereigenschaften anderer, Projektionen, aber auch Leistungsforderungen an andere schädigen diese Äthersphäre.

Lebensätherwirken

Es soll einer Gruppe dazu verhelfen, in ihrer Arbeit weiterzuschreiten, Wachstum zu erreichen und dabei immer wieder neue Initiativkräfte zu gewinnen. Dazu sollten sich die Mitwirkenden bewusst machen, wie sie gegenüber einem früheren Zeitpunkt fortgeschritten sind. Sie sollen mit Yoga-Übungen, Eurythmie oder Rollenspielen eine lebensvolle Gruppen-Atmosphäre schaffen und in ihren Gesprächen und Begegnungen Variationen und Metamorphosen praktizieren. Negativ wirken hier Herabsetzungen, Diskriminierung von Menschen oder Gruppen sowie pauschale Urteile, weil sie Lebenswirklichkeit verleugnen und Gesprächsverläufe mit differenzierten Bewertungen behindern.

Klangätherwirken

Im Wirkensfeld des Klangäthers soll Harmonie entstehen: Wie wirken die einzelnen Beiträge und Aktivitäten zusammen, entsteht dabei ein Klang, eine Melodie oder gar eine Symphonie? Das kann gelingen, wenn alle den individuellen Beitrag auf den Inhalten der Vorredner:in aufbauen, wenn die einzelnen Beiträge oder Aktivitäten in guten »Proportionen« zueinander stehen und Arbeitsphasen in sinnvollen Zahlenverhältnissen gestaltet werden.  

Damit sollen Abläufe von den Beteiligten als »stimmig« und »harmonisch« erlebt werden. Den Klangäther schädigen Routine und Monotonie wie auch Disruption, vor allem durch Dritte.

Wie arbeiten?

Gemeinsam arbeiten für ein Ziel, das einer allein nicht erreichen kann: Das gelingt nur, wenn Ätherkräfte die individuellen Kräfte zu einer Synthese zusammenführen, vor allem dann, wenn sich Menschen mit verschiedenen Weltanschauungen, Werten und Überzeugungen zusammenfinden. Damit aus einer Vielfalt eine Synthese entsteht, bedarf es der Prozessgestaltung: Wie wollen wir miteinander sprechen und arbeiten? Die fortwährende Gestaltung der vier Ätherfelder führt zum Aufbau und der Pflege des »Klimas«, der »Atmosphäre«, der »Gesprächskultur«. Dabei nehmen die Mitwirkenden wahr, wie sich die vier Ätherfelder entwickeln und bemerken gegebenenfalls Defizite. Bei größeren Gruppen sollte ein/e Moderator:in gewählt werden: Er oder sie wird Bitten und Mahnungen aussprechen und die Mitarbeitenden innehalten lassen, um eine aktuelle Situation zu bewerten und Verhaltensweisen anzuregen, die die Ätherkräfte stärken.

Dabei kommt es auch auf eine sinnvolle, zielorientierte Pflege der einzelnen Ätherkräfte an. Eine problem-belastete Gemeinschaft, die Entwicklungsschritte benötigt, wird besonders Lebensäther pflegen. Ein Vortrag, der einseitig vor allem Lichtäther schafft, erreicht kaum die Herzen der Zuhörenden: Erst durch Fragen und durch verständnisvolle Antworten wird Wärmeäther entstehen. Wenn Beteiligte Bitten aussprechen, die gut von anderen erfüllt werden können, entwickelt sich Lebensäther, der Entwicklungsschritte fördert.

»Gewaltfrei kommunizieren«

Die »Gewaltfreie Kommunikation« Marshall Rosenbergs (6) bietet qualifizierte Verfahren für Gesprächsverläufe, die de facto die vier Ätherfelder ansprechen und entwickeln:

  • mit der Darstellung von Sachverhalten wird »Lichtäther« aufgebaut,
  • mit Äußerungen persönlicher Betroffenheit entsteht »Wärmeäther«,
  • Gespräche über Handlungsmöglichkeiten bauen »Lebensäther« auf,
  • gut gestaltete Bitten an andere können Qualitäten des »Klangäthers« initiieren.

Damit bestätigt sich die Existenz und Valenz der vier Wirkensfelder im Sozialen: Hier wird ein »Brückenschlag« zwischen dem anthroposophischen Sozialimpuls und der aktuellen, weltweiten Bewegung Marshall Rosenbergs möglich. Mit den vier Prozessschritten entstehen vier Wirkungsfelder, die Ziele erreichen, die über die Summe individueller Fähigkeiten hinausgehen (8, 9).

Soziale Dreigliederung

Eine bedeutsame und immer noch aktuelle Intention Rudolf Steiners ist die »Dreigliederung des sozialen Organismus« (7). Sie zielt darauf hin, ein menschengemäßes soziales Umfeld zu schaffen, das der dreigegliederten Konstitution des Menschen entspricht. Wie in einem »Organismus« sollen die drei Ideale »Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit« allen Mitwirkenden zukommen. Damit werden alle Seelenfähigkeiten aktiviert, jeder kann sich ganzheitlich entwickeln und in das soziale Geschehen einbringen. Dazu müssen drei soziale Felder entsprechend veranlagt werden:

  • die Kultursphäre, in der die Mitwirkenden ihre Fähigkeiten entwickeln und ihre Initiativen in das Geschehen einbringen: sie erfordert entsprechende Freiheitsräume;
  • die »Rechtssphäre, die mittels Vereinbarungen und Gesetzen jedem Beteiligten gleiche Rechte und Pflichten zukommen lässt, damit das Ideal der Gleichheit verwirklicht wird;
  • der »Wirtschaftsbereich«, in dem allen die Ressourcen gewährt werden, die sie zu ihrer individuellen Bedürfnisbefriedigung benötigen: hier soll Solidarität erlebt werden.

Mit der »Dreigliederung« wird eine Schule so konstituiert, dass alle ihre Fähigkeiten und Intentionen in das Schulgeschehen einbringen kann. Dies im Rahmen einer Verfassung, die die Zusammenarbeit in Delegationen und Arbeitskreisen so regelt, dass Konflikte vermieden werden – der Vorstand ist dabei vor allem Wahrnehmungsorgan. Das Wirtschaften wird von Vielen mitverantwortet, damit die Bedürfnisse aller möglichst gut befriedigt werden.

Ein Unternehmen kann »Dreigliederung« durch »tri­modales Management« realisieren, indem

  • »Team-Orientierung« für die Entwicklung von neuen Produkten und Verfahren (Innovationen),
  • »Weisungsbefugnis« für die Einhaltung von Gesetzen, Regeln und Vereinbarungen und
  • »Delegation von Verantwortlichkeit« für kund:innen orientiertes Handeln, also zur Erfüllung von Bedürfnissen anderer, praktiziert wird.*

Rudolf Steiner zielte mit seinen Intentionen am Ende des Ersten Weltkriegs zunächst auf eine neue Konstitution des Kaiserreichs. Heute bieten die Verfassungen der EU und der Bundesrepublik gute Grundlagen für die spezifischen Gestaltungen der drei Lebensfelder: Damit kann die »soziale Dreigliederung« aktuell überall, in Initiativen, Einrichtungen und Unternehmen realisiert werden. Praktizierte Beispiele in Schulen und Unternehmen zeigen gute Erfolge (9). Da mit der sozialen Dreigliederung die beteiligten Menschen ganzheitlich angesprochen werden und mitwirken können, bietet sie eine ideale Basis, auf der im sozialen Geschehen die vier dargestellten Ätherkräfte geweckt und gepflegt werden können.

Vertiefende Informationen zu diesem Modell sowie veranschaulichender Grafiken finden Sie in meinem Buch Sich selbst entdecken.

Anmerkungen:

1 Rudolf Steiner: Die Geheimwissenschaft im Umriss, Dornach 2013

2 Rudolf Steiner: Die Evolution vom Gesichtspunkt des Wahrhaftigen, Dornach 2007

3 Ernst Marti: Das Ätherische, Basel 2014

4 Heinz Grill: Das Wesensgeheimnis der Seele, Sigmaringen 2015

5 Heinz Grill: Übungen für die Seele, Roßdorf 2016

6 Marshall Rosenberg: Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation, Freiburg 2004

7 Rudolf Steiner: Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft, Dornach 2022

8 Karl-Dieter Bodack: Sich selbst entdecken – Andere verstehen, Schritte zu Selbstentwicklung und erfolgreicher Zusammenarbeit, Aachen 2016

9 Karl-Dieter Bodack: Ein Leben mit Spuren – Als Anthroposoph bei der Deutschen Bahn, Frankfurt 2021: Darin finden sich zahlreiche Beispiele für das Ätherwirken in Arbeitsgruppen, politischen Gremien und Vorstandssitzungen im Rahmen von Bürgerinitiativen, Schulen, der Deutschen Bahn und in Unternehmen.

Autor: Prof. Dipl.-Ing. Karl-Dieter Bodack, M.S. *1938, Facharbeiter-Ausbildung in der Hibernia, Studium Design, Maschinenbau und Sozialwissenschaften in Essen, Stuttgart, Berkeley. Stabs- und Führungspositionen bei der DB. Mitbegründer einer Waldorfschule, eines Studiengangs an einer staatlichen Hochschule, des InterRegio-Zugsystems der DB und eines Schienenfahrzeugunternehmens. Freiberufliche Beratung von Initiativen, Schulen und Unternehmen. Kontakt: kdbodack@icloud.com  

Kommentare

Es sind noch keine Kommentare vorhanden.