Mit den Augen der Schüler

Henning Kullak-Ublick

Sie enthielten die Daten von mehr als 800 Meta-Analysen aus 50.000 Einzeluntersuchungen mit 250 Millionen beteiligten Schülern. Insgesamt wertete er 138 Einflussgrößen für einen gelingenden Unterricht aus und gewichtete sie nach ihrem tatsächlichen Einfluss, sofern dieser sich statistisch erfassen ließ. Zu ihnen gehörten die Leistungsbewertung und das Sitzenbleiben, Klassengrößen, Frontal- oder Gruppenunterricht, Hausaufgaben, Nachhilfe und viele mehr.

Um es kurz zu machen: Fast alles, was heute die Debatten um eine bessere Bildung ausmacht, ist ziemlich unwichtig gegenüber dem entscheidenden Faktor der Persönlichkeit des Lehrers oder der Lehrerin. Weder die Klassengrößen noch die materielle Ausstattung noch das »System« einer Schule haben einen ähnlich großen Einfluss. Sogar Dinge wie klassenübergreifender Unterricht, die Nutzung elektronischer Medien oder die Arbeit in kleinen Gruppen spielen längst nicht so eine Rolle wie die Beziehung, welche die Lehrer zu ihren Schülern aufbauen.

Und obwohl Hattie sogar den Frontalunterricht rehabilitiert, führen seine Ergebnisse keineswegs zurück in die Zeiten der Feuerzangenbowle. Hattie weist anhand seiner Zahlen nämlich nach, dass erfolgreiche Lehrer über einige sehr wesentliche Merkmale verfügen: »Ein guter Lehrer«, so Hattie, »sieht den Unterricht mit den Augen seiner Schüler«. Auch gebe er nicht den Schülern die Schuld an vergleichsweise schlechteren Leistungen, sondern suche den Grund immer zuerst bei sich selbst. Eine herausragende Bedeutung schreibt die Studie der Frage zu, ob sich die Schüler in ihren Fortschritten wahrgenommen und beraten oder nur beurteilt fühlen.

Während ich die letzte Woche auf Europas größter Bildungsmesse, der Didacta, verbrachte, musste ich immer wieder an die Hattie-Studie denken. Während mit einem ungeheuren Tamtam die Implementierung elektronischer Medien bis in die Kindergärten propagiert und mit dem Schlagwort »Medienkompetenz« gewaltige Absatzmärkte erschlossen werden, bleibt das Allerwichtigste, nämlich die Befähigung der Lehrer und ihrer Schüler zum Abenteuer eines lebenslangen Lernens weitgehend einigen Sonderschauen wie auch unserem Waldorfstand vorbehalten.

Jeder Waldorflehrer weiß, dass Rudolf Steiner unzählige Anregungen gab, wie wir einen verantwortlichen Blick für jedes einzelne Kind entwickeln können. Vor dem Hintergrund der Hattie-Studie bekommt die »geliebte Autorität«, die zu sein er sich von den Lehrern der jüngeren Schüler wünschte, plötzlich eine empirische Basis. Sie ist der Gegenentwurf zu einer »institutionellen Autorität«, weil sie nicht gefordert wird, sondern entsteht, wo Authentizität, Sinnhaftigkeit, Wahrhaftigkeit und das Interesse für die Kinder die Grundlage des pädagogischen Handelns sind.

Henning Kullak-Ublick, von 1984-2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen und bei den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, Aktion mündige Schule (www.freie-schule.de)