In Bewegung

Mit einer DIN-Norm zur Freiheit

Rudolf Steiner war faktisch Schulleiter der ersten Waldorfschule in Stuttgart. Seine fortschreitende Erkrankung und sein Tod nur fünf Jahre nach der Schulgründung verhinderten das, was man heute Nachfolgeregelung nennt. Dem Kollegium gab er die Aufgabe, die Schule nach seinem Tod in Selbstverwaltung zu führen. Für die Entwicklung klarer Empfehlungen, dies zu formen, fehlte es ihm zuletzt an Kraft. Noch heute haben Waldorfschulen bisweilen Mühe, die Leitungsrolle Steiners durch gute und funktionale Strukturen zu ersetzen. Organisationsstrukturen erscheinen dann diffus, vertikale, also leitende Linien existieren kaum. Führungsprozesse geschehen verschwiegen oder existieren nur auf dem Papier – sie leben nicht und werden nicht geliebt. Ein Prozess, der allen viel Kraft abverlangt, Unordnung erzeugt, Verunsicherung bereitet und letztlich an jenem Idealismus nagt, der seine Kraft den Kindern und Jugendlichen schenken möchte. «Warum macht ihr es euch denn so schwer?», fragt sich manch:e Außenstehende:r.

In der Betriebswirtschaft und im Management gibt es unter vielen anderen folgende Begriffe: Mitarbeiterzufriedenheit, Kundennutzen, Kontinuierlicher Verbesserungsprozess, Prozesseignerschaft. So ein starres und technisches Vokabular ist an Waldorfschulen gewiss fehl am Platz – könnte man meinen. Ich behaupte jedoch, die Beschäftigung mit diesen Begriffen kann einen Weg zur Freiheit aufzeigen. Werfen wir gemeinsam einen Blick darauf, in Form eines Erfahrungsberichts.

Freiheits-Dynamik nach Einführung eines ISO 9001-Qualitätsmanagements
 

Im Jahr 2003 gründete ich ein Unternehmen, in dem wir Sensoren zur Messung ultravioletter Strahlung entwickeln und produzieren. Von Beginn an ist das Unternehmen der tägliche Versuch, die Soziale Dreigliederung mit Leben, Kraft und Sinn zu füllen. Das macht uns wirtschaftlich sehr erfolgreich, seit über 20 Jahren. Seit der Gründung hat noch kein Kollegiumsmitglied gekündigt. Auch hat der Betrieb noch keine Kündigung aussprechen müssen.  Im Jahr 2013 beschlossen wir, ein zertifiziertes Qualitätsmanagement nach ISO 9001 einzuführen. Der Impuls war eher pragmatischer Natur: Ein junger, fähiger Mann trat mit dem Wunsch an uns heran, mit uns eine Masterarbeit durchführen zu wollen und bat um Themenvorschläge. Die Wahl fiel auf die Erarbeitung eines ISO9001-Qualitätsmanagements inklusive deren Zertifizierung durch eine staatlich akkreditierte Einrichtung. «Eine solche Weiterentwicklung wird uns bestimmt nicht schaden und unsere Kunden freuen sich», dachten wir. In seiner Nachwirkung entwickelte dieses Instrument einen erstaunlichen Effekt. Es hat uns nicht etwa, wie zunächst vermutet, Freiheiten genommen, sondern im Gegenteil ungeahnte Freiheiten bereitet. Wir erkannten, dass all unser Handeln nur zwei Zielen zu dienen hat, der Zufriedenheit der Mitarbeiter:innen und dem Nutzen für unsere Kund:innen, und zwar in dieser Reihenfolge. Wir erhielten Klarheit im Erkennen, an welchen Punkten wir zu «funktionieren» haben, um die Menschen in unserem Nahfeld vor Problemen zu bewahren und ihnen Freude zu bereiten.

Was funktionieren muss?
 

Absprachen im Kollegium werden wo angemessen schriftlich getroffen und diszipliniert eingehalten, auch wenn es an Muße dazu fehlt. Die persönlichen «Qualitäts-Ziele» werden wirksam verfolgt und der Fortschritt monatlich dokumentiert. Wir beantworten uns gegenseitig Fragen, die gar nicht gestellt wurden, das heißt wir denken uns in den anderen hinein. Wir bemühen uns um ernsthaftes Interesse an den Persönlichkeiten unserer Kolleg:innen. Externe Anfragen werden binnen 24 Stunden beantwortet, interne möglichst noch zeitiger. Teil unseres wöchentlichen Plenums ist das sogenannte Issue-Meeting. Hier haben wir alle die Aufgabe, bestehende Probleme, aber auch befürchtete zukünftige Probleme anzusprechen. Diese werden sorgfältig dokumentiert und es werden Lösungsversuche unternommen und im geregelten Verfahren auf Wirksamkeit geprüft.  Damit kann ein «ich habe es ja immer gesagt, aber auf mich hört ja keiner» sehr wirksam verhindert werden.

Mit dem Blick auf das, was funktionieren muss, öffnete sich unser Blick auf jene Felder, in denen wir in Freiheit, Idealismus und Intuition agieren können. Jedes Kollegiumsmitglied ist mit seinem Talent, seinem Charakter willkommen. Niemand muss sich verbiegen. Der Betrieb entwickelt sich zum Betriebsmitglied hin und nicht andersrum. So kann echte Freundlichkeit gegenüber allen Beteiligten entstehen. Der wirtschaftliche Erfolg dieser Strategie gibt das gute Gefühl, so sein zu dürfen wie man ist und trotzdem – oder gerade deshalb – beruflichen Erfolg genießen zu dürfen. Letztlich haben wir erkannt, dass die neuen Möglichkeiten der freien Entfaltung weit größer sind als die Beschränkungen, denen wir uns im Zusammenhang mit Aufrechterhaltung des Qualitätsmanagements zu unterwerfen hatten – und das war eine wunderbare Erkenntnis, die wir nun mit Freude seit über zehn Jahren leben, jeden Tag.

Kann man eine Waldorfschule mit einem Technologieunternehmen vergleichen?
 

Zunächst einmal erscheint ein solcher Vergleich in der Tat kühn, wenn nicht gar abwegig. Das eine ist eine Einrichtung des Geisteslebens, das andere eine Einrichtung des Wirtschaftslebens. Blickt man aber genauer auf die Struktur, so ergeben sich Gemeinsamkeiten. «Mitarbeiterzufriedenheit» bzw. «Kollegiumszufriedenheit» – diese Kernforderung der ISO 9001 ist die Wurzel von allem Guten und Richtigen in jedem Betrieb, sei es ein Technologieunternehmen, eine Waldorfschule oder jedes andere Unternehmen. «Kundennutzen», die zweite Säule der ISO 9001, schwingt auch im Leitbild der Waldorfpädagogik mit, die Kinder und Jugendlichen schauend zu erkennen und individuell zu kräftigen, sie zur Freiheit zu erziehen.

Darum ausgerechnet ISO 9001
 

Es gibt doch längst viele individuell an Waldorfschulen angepasste Qualitätsmanagement-Systeme, was sollte ISO 9001 da besser machen? Individuell zugeschnittene Systeme existieren und mit ihnen gute Bücher, die sie beschreiben. Durch ihre Individualität haben sie aber einen entscheidenden Nachteil: Sie sind individuell. Sie basieren in irgendeiner Weise auf einem bestimmten ideologischen Ansatz, der nie von allen geteilt werden kann, zumindest nicht über einen Zeitraum von vielen Jahren. Die ISO 9001 mit ihrem spröden, aber klaren Regelwerk behandelt alle gleich, sei es die Änderungsschneiderei an der Ecke, eine Waldorfschule oder Airbus Industries. Und in dieser Nüchternheit und Transparenz liegt eine große Chance. Jedes Mitglied des Kollegiums, sei es ein:e Exzentriker:in oder ein:e Mitschwinger:in, willigt in einige  wenige, für alle geltenden Regeln ein, und erklärt sich bereit, die Mitwirkung an diesem Regelwerk im für die Aufrechterhaltung einer ISO 9001-Zertifizierung erforderlichen dokumentierten Verfahren transparent zu machen. Der Lohn dafür ist Freiheit überall dort, wo das Regelwerk nicht eingreifen will und auch nicht darf, an erster Stelle natürlich Freiheit für die individuelle pädagogische Arbeit am Kind und Jugendlichen.

Mühen bei der Einführung eines Qualitätsmangements
 

Ja, die Einführung ist mit viel initialer Arbeit verbunden, die «wagende Tat» ist erforderlich und auch die Aufrechterhaltung kann nicht nebenbei erfolgen. Das soll sie auch nicht, sondern sie soll vom gesamten Kollegium verstanden und akzeptiert bleiben, mehr noch, als attraktiv und persönlich vorteilhaft betrachtet werden. Aus eigener Erfahrung kann ich berichten, dass die Ausschreibung einer fair entlohnten Masterarbeit ein sehr guter Einstieg in die Umsetzung ist. Die Studierenden bringen eine hohe intrinsische Motivation mit: Das Studium soll zügig zum Abschluss kommen und die Bewertung der Arbeit soll lobend ausfallen. In einem ersten Schritt wird die bestehende Qualitätspolitik der Schule, allem voran ihr Leitbild betrachtet. Man kann von freudigem Staunen ausgehen, was alles schon vorhanden ist und nun ordnend und wertschätzend mit den Anforderungen der Norm harmonisiert werden kann. Die Norm ist im Hinblick auf die Einbringung eigener, individuell angepasster Methoden sehr flexibel. Letztere sind also ausdrücklich willkommen. Bei der Wahl des Zertifizierenden kann man sich für ein Unternehmen entscheiden, welches bisher wenig Erfahrung mit Einrichtungen des Gemeinwohls hat – was gewisse Vorteile hat. Andererseits gibt es Spezialist:innen, wie die Münchner SocialCert GmbH. Auf deren Webseite findet sich ein beeindruckendes Zitat von Friedrich Schiller: «Keiner sei gleich dem anderen, doch gleich sei jeder dem Höchsten. Wie das zu machen? Es sei jeder vollendet in sich.» Dieses Zitat, wenn man es auf sich wirken lässt, kann den Blick öffnen auf die stärkende und beruhigende Klarheit, welche die Norm ISO 9001 schenken kann – wenn die Regeln gelebt und geliebt werden, wenn jedes einzelne Mitglied des Kollegiums die sich ergebenden persönlichen Vorteile täglich spüren kann.

Ein Wort zum Marketing
 

Marketing – noch so ein Wort, das sich zunächst recht grell anhört – aber vielleicht in der Waldorfschule heute wichtiger ist als es in der Vergangenheit war. Aktuell ist zumindest in Deutschland ein gewisses Überangebot an Waldorfschulplätzen festzustellen. Besonders in der Oberstufe bleiben Stühle leer. Oder anders ausgedrückt: Die Waldorfschule erlebt momentan einen Attraktivitätsverlust, aus verschiedenen Gründen. Das ist zu bedauern. Unsere Zeit braucht mehr frei lebende Geister und weniger Follower. Auf den hinteren Seiten jeder Erziehungskunst wird darüber hinaus augenscheinlich, welche Mühe es macht, Menschen zu finden, die ihre Kraft in den Dienst der Waldorfpädagogik stellen möchten. In allen, in den Kunden, also den Schüler:innen und deren Eltern sowie den Pädagog:innen und Verwaltungskräften kann der Hinweis «Das Qualitätsmanagement unserer Schule ist nach ISO 9001:2015 zertifiziert»  frohe Erwartung erwecken: «Bei uns  laufen die Dinge transparent und geordnet. Das schafft Vertrauen und Klarheit. Damit haben wir alle Kraft für unsere waldorfpädagogische Arbeit am Kind und am Jugendlichen, alle Kraft für die Waldorfpädagogik als unser Alleinstellungsmerkmal.»

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