Mit Empathie gegen Megalomanien. 9. Bildungskongress in Stuttgart

Martin Mengel

Was lässt Gemeinschaften glücken, was scheitern? 

Nach Gerald Häfner, Europaparlamentarier der Grünen aus München, ist Empathie und Solidarität ohne Vertrauen nicht denkbar: Sich in andere Lebewesen, Pflanzen und Dinge einzufühlen und einzudenken bedeute, sich auf ihre Eigenarten einzulassen, um gemeinsam mit ihnen die Zukunft zu bauen. Misstrauen »verhexe« das Fühlen, Denken und Handeln der modernen Menschen, die dem Leitbild des Homo oeconomicus folgten und sich den Götzen Geld und Finanzkapital unterwürfen. Was der Referent nicht erwähnte, ist, dass Vertrauen eine gewisse Treue zu sich selbst voraussetzt, ein Gefühl und die Gewissheit der eigenen Sicherheit und Stärke, von der aus mutig in die Welt hinaus gegangen werden kann.

Manfred Schulze, Dozent am Erzieherseminar in Kassel, nahm seine Zuhörerschaft mit auf eine historische Tour d’horizon des Begriffs Selbstsorge: Die Sorge um Maß und Mitte im antiken Griechenland; die Regel des »ora et labora« im Diesseits, die im Christentum eine Selbstvorsorge für das ewige Leben im Jenseits garantierte. Immer waltete in der Geschichte die Vorschrift des »Du sollst«. Es gelte heute aber Formen der Selbstlosigkeit zu finden, in denen die Kunst der je individuellen Lebensführung anstelle des Kampfs ums Dasein zu treten habe. Schulzes Lobrede auf die Selbstlosigkeit künstlerischen Tuns im Alltäglichen hätte aber auch dies beherzigen müssen: Kunst kommt von Können und Können von Kennen. Ich lerne mich durchs Können kennen und schöpfe hieraus die Kunst solidarischen Handelns.

Karl Gebauer, ehemaliger Schulleiter aus Göttingen zeigte anhand von Szenen aus dem Kindergarten, wie Kinder Konflikte gestalten. Gebauer meinte, die innere Dramaturgie dieser Streitigkeiten führe durch die Kunst der Empathie in der Regel zu einem versöhnlichen Ende. Empathie sei die Brücke zum anderen – dieser Satz verdichte, was mit Einfühlungsvermögen und seinem Wert für das Soziale gemeint sei.

Michael Wickenhäuser, Lehrer an der interkulturellen Waldorfschule in Mannheim, beleuchtete das Lernen im Spannungsfeld des Nahen, das fern ist, und des Fernen, das nah ist. Sein durch eigene Erfahrungen gebrochenes Erzählen überzeugte durch Wärme und Dichte. Respekt und Fairness erlebten die Kinder und Jugendlichen im gemeinsamen Erkunden durch wirkliche Räume und Zeiten. Die verschiedenen religiösen Hintergründe der Kinder und Jugendlichen träten zutage und bewährten sich in anhaltender Empathie, wenn nicht theoretisch verhandelt, sondern praktisch gehandelt würde. Wenn Erzieher und Kind durch ihre je individuellen Biographien hindurch wirkten und sich nicht verstellten, könne eine auf Empathie basierende Pädagogik glücken.

Das Verborgene löst Mitempfinden aus

Der abschließende Vortrag von Andre Bartoniczek »Mythen­bildende Kräfte und soziale Fähigkeiten« zeigte, dass das Interesse am anderen Menschen durch das Erlernen eines bildhaften Erkennens entsteht; es nimmt den Mitmenschen nicht in seiner äußeren Erscheinung und aus der Distanz, sondern als Ausdruck eines verborgenen Wesens wahr, das Mitempfinden auslöst.

Das Seminar »Erziehung zur Gefühllosigkeit – Medienwirksamkeit und Empathiekräfte« von Andreas Neider machte deutlich, wie elektronische Simulationsspiele die Sehnsüchte der Kinder und Jugendlichen nach dem »Wärmestrom« einfühlender Nähe und Begegnung benutzen, um sie der Kälte der leeren Virtualität auszuliefern: dumpfe Reiz-Reaktionsverhältnisse, reduzierte Ja-Nein-Logiken, die Phantasie des Spielers wird durch die Bilderproduktionen des elektronischen Rechners ersetzt, maschinengesteuerte Illusionen überlagern die eigenen Lebenserfahrungen und verunmöglichen zunehmend die Bildung eines individuellen oder kollektiven Gedächtnisses … Der Spieler erlebt computergenerierte Megalomanien: Ich kann alles, ich steuere die Handlungen, ich habe Macht – er erlebt sich als ein omni­potentes Selbst in einem seelenlosen Körper.

Die drei Kongresstage waren dicht gedrängt und gingen unter die Haut. Das Publikums folgte einfühlsam, ja begeistert. Schön wäre es gewesen, hätte es auch Räume und Zeiten für Diskussionen und Gedankenexperimente gegeben, die das Thema einmal mit seinen abgründigen, dunklen Seiten vorgestellt hätten.

Der 10. Bildungskongress 2013 findet vom 11. bis 13. Januar unter dem Thema »Lernen, Entwicklung und Gedächtnis – Identitätsbildung im Kinder- und Jugendalter« statt. Kontakt: Agentur »Von Mensch zu Mensch«, E-Mail: aneider@gmx.de